maha hat geschrieben:Bei anderen Wein (Regionen) ist uns das vollkommen schnuppe?
Ah, du bist ganz offenbar kein Bordeaux-Trinker und hast deshalb die repetitiven Diskussionen ueber die jeweils aktuellen Bordeaux-Jahrgaenge verpasst. Soll ich einen link setzen, oder findest du selber hin?
Charlie hat geschrieben:Zur Deutung: weiss ich auch nicht. Ob die Winzer das wissen? Schwierig, weil hier zwei Diskurswellen zusammenschwappen und dadurch Verwirbelungen entstehen können (im Kopf). Die eine Welle ist die trocken vs süß Welle, die andere ist die Kabinett-Welle. Man versucht beide zu reiten. Es geht aber immer noch um süße Kabinette, nicht um trockene. Man hat verstanden, dass ein süßer Kabinett mit einem trockenen (nicht austrocknenden) Mundgefühl enden muss. Das geht nur in weniger süß.
Dazu fallen mir gleich mehrere Dinge ein:
Charlie, ist es tatsaechlich kanonisch, dass ein Kabinett mit einem trockenen Mundgefuehl enden muss? Ist das wirklich, was die Erzeuger anstreben? Ich hatte das nur geschrieben, weil
ich mir das so wuensche.
Trauben fuer solche Weine sind tatsaechlich sehr schwer zu erzeugen. Sagen wir mal 8% mit 50 g/l RZ im fertigen Wein, dann sind wir in der Ecke 83 Oe fuer den Mostzucker. (Tataechlich Werte haengen von vielem ab, aber mal als Diskussionsgrundlage.) Die Trauben muessen auch weiger als 12 g/l Gesamtsaeure haben (ob Aepfel- oder Weinsaeure, ist unerheblich, da nur der pH-Wert mit dem Saeureeindruck korreliert.)
Das Problem sind a) die "Aromastoffe" und b) die "Phenole" (jeweils im ueblichen Laiensprech). Der Gehalt beider korreliert mit der Reife der Trauben; dazu kommt, dass sich mit zunehmender Reife das Aromaspektrum aendert (von gruenem Apfel nach gelbem nach gelbem Steinobst nach exotischer Frucht) und komplexer wird, und die Phenole weniger gerbened/austrocknend werden und mehr Mundfuelle (Koerper) vermitteln. (Dieser "Reifeindruck" der Phenole antikorreliert uebrigens mit dem Aepfelsaeuregehalt, weswegen letzterer immer eine grasige Haerte angedichtet wird, dabei sind's die Phenole und nicht die Protonen.)
Boeden mit nicht zu guter, aber trockenstressvermeidender Wasserversorgung sind im Vorteil, weil der Kaliumgehalt des Mosts, der stark mit dem Koepereindruck korreliert, mit guter Wasserversorgung steigt - und natuerlich sind Lehmboeden (z.B. in Hochheim/Rheingau) zwar besser wasserversorgend (freier Feldkapazitaet zur Reifezeit), erwaermen sich aber schwerer, alles bleibt feucht und klamm und faengt an zu gammeln, weswegen man dann doch lieber steinige (feinerdearme) Boeden waehlt, wo das Wasser schnell abfliessen kann (Steillagen mit Schiefer bieten sich an). Deswegen gibt es in den noerdlichsten Anbaugebieten keine guten Weine von schweren, tiefgruendigen Boeden: Chablis, Mosel, Champagne - dann gleich Sektgrundwein.
Will man komplexe Aromatik bei gelber Steinfrucht in einem koerperarmen, saeurebetonten, nicht austrocknendem (wenig, aber reife Phenole), muessen die Trauben langsam und sehr spaet reifen, d.h. bei kuehlen Nachttemperaturen und trockenen, sonnigen, waermlichen Tagen (November), dabei perfekt gesund bleiben (keine Botrytis; keine konzentrierende Antrocknung). Letztere begrenzt die Wirksamkeit von hohen Ertraegen (also niedrigen Blatt-Frucht-Verhaeltnissen) zu Reifeverzoegerung (in nicht zu dichter Spaliererziehung kann der Termin des Wipfelns etwas helfen, das Einsetzen der Traubenreife nach hinten zu schieben). Mit Klimawandel an Suedhaengen am Fluss ("Spitzenlagen") kommt eine weitere Erschwernis hinzu
Daran sieht man sehr schoen, welch unmoeglicher Wein ein perfekter Kabinett also ist: Wenig Koerper bedeutet wenig Phenole bedeutet wenig Reife bedeutet wenig und simples Aroma und wenig Zucker bedeutet aber hohe (Aepfel)Saeure. Sogar in der am besten dafuer geeigneten Region, der Mosel, gibt es nur ganz, ganz wenige Lagen, die sich fuer die Kabinetterzeugung eignen, und auch nur wirklich nur in ganz, ganz wenigen Jahren, etwa 2015. Darunter ist es ein saurer Tropfen mit Restzucker, darueber eine "gutes Spaetlesejahr" (etwa 2016).
So der Kabinett ueberhaupt das Ziel des Winzers ist; Spaetlesen sind mittlerweile viel einfacher und gewinnbringender(!) zu erzeugen, weil trotz etwa gleicher Produktionsmenge (unterlassene Ertragsreduzierung wird von der insgesamt frueheren Reife abgefangen) die Preise ziemlich angezogen haben und der Kunde ein viel weiteres Spektrum akzeptiert: Von der "leichten Spaetlese" (Ertrag!) zur dicken GK*** ("Auslese fuer billig!") darf alles dabeisein.
So weit zum theoretischen Hintergrund der Kabinetterzeugung und warum superkomplexe und dennoch zarte Kabinette echte Einhoerner sind. Praktisch wuesste ich aber dennoch gerne, wie der julianhaartsche Wein nun ist.
Abschliessend noch ein kleiner Gedanke: Wie sehr losgeloest ist die Anforderung des trockenen Mundgefuehls denn
wirklich von der Trockenwelle? Ich glaube naemlich, dass das klassischer
backlash ist. Seit 15 Jahren schuettet der Konsument deutschtrockene Rieslinge in sich hinein, die fuer die Sportschau zu maechtig und fuers Essen zu suess sind; da kommt ihm der Hype um den zarten und "feinherben" (sic!) Kabinett gerade recht, um sich erstens zu distiguieren und zweitens bei nichtlinearen Netflix-Serien endlich rundum kultiviert zu fuehlen.
Und natuerlich ist die Debatte darueber, was ein Kabinett angeblich kosten darf, ein Echo der "Geiz-ist-geil"-Zeit. Privilegien fuer alle!
Cheers,
Ollie