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Terroir - wer hat Recht?

In Religion, Philosophie, Politik, Kultur und Sport
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Markus Vahlefeld

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Re: Terroir - wer hat Recht?

BeitragSa 24. Dez 2011, 10:40

Susa, gut und schlecht sind gar nicht die Kategorien. Oder um einen Vergleich heranzuziehen: war Amy Winehouse ein guter Mensch? Ich glaube, um Terroir vom Marketinggesülze wegzubekommen, muss man erstmal den Bereich "Jenseits von Gut und Böse" öffnen. Beim Wein bedeutet das: jenseits von lecker oder nicht-lecker.

Ein befreundeter Winzer sagte mal (es war ehrlicherweise im leichten Suff): ein Gutswein muss wie ein Stich von Dürer sein: präzise und reproduzierbar. Aber ein Grosses Gewächs kann auch mal wie die Fettecke von Beuys sein. Ich fand das treffend.
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JDW2309

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Re: Terroir - wer hat Recht?

BeitragSa 24. Dez 2011, 11:39

Hallo,
ich werfe hier einfach mal was rein und bin auf die folgende Diskussion gespannt...
der 6. internationale Terroir Kongress, Bordeaux-Montpellier hat im July 2006 folgende Definition für Terroir festgelegt:
"An ecosystem based on interactions between physical, biological and
human factors within a geographical area with defined boundaries, where a human
community generates and accumulates along its history a collective production knowledge
...The combination of techniques involved in production reveals originality, confers typicity, and leads to a reputation for a good originating from this geographical area"

An alle frohe Weihnachten und ein besinnliches Fest!
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susa

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Re: Terroir - wer hat Recht?

BeitragSa 24. Dez 2011, 12:34

JDW, zwischen dem französischen Verständnis von Terroir und den hiesigen liegen Welten ;)

lieben Gruß
susa
Red wine with fish. Well, that should have told me something.
James Bond in From Russia with Love
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Kle

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Re: Terroir - wer hat Recht?

BeitragMo 26. Dez 2011, 19:25

_AL_ hat geschrieben:Ich frage mich nur immer wieder wie "objektiv" Geschmack sein kann.


da beginnt der faszinierende „Wahnsinn“ der Scheuermannschen Theorie, so wie ich sie verstehe.
Theorie an
-einige rare hochklassige Güter bemühen sich seit Generationen darum, die Besonderheit ihrer klimatischen, meteorologischen Bedingungen etc. in ihren Weinen hochgradig und kontinuierlich auszudrücken. Es handelt sich um eine von vielen möglichen Interpretationen, die aber in sich folgerichtig ist. Und wurde ein bestimmter Weg erst einmal eingeschlagen, liegt die Kunst darin, ihn evolutionär und in emphatischer Reaktion auf sich verändernde Gegebenheiten fortzusetzen. Weinberg und Weinkeller sind bald unentwirrbar verflochten. Auch die menschliche Tätigkeit der Vergangenheit fließt in die Würdigung des Terroir ein und prägt sie in der Gegenwart wie die Rebensorten oder Regenperioden.
Die produzierten Weine sind nicht unbedingt besser als andere, aber eben Terroir-Weine, die von Verkostern mit jahrelanger Erfahrung erkannt werden können. Mehr noch: Terroir benötigt ein Komplement, den quasi kongenialen Verkoster, um zum (Bewusst-)Sein zu gelangen. Die „Objektivität“ ergibt sich demnach aus der Historie gespiegelt im Wein, der auf der Zunge des Verkosters seine Wahrheit offenbart. Subjekt, Objekt, Vergangenheit, Gegenwart alles eins.
Theorie aus.
Leider werde ich persönlich kaum je eine solche Wahrheit schmecken können und verstehe das Wort ganz naiv, pragmatisch und positiv. Nimmt ein Winzer es in den Mund, bezieht er sich auf eine Idee, einen Anspruch. Das macht seine Weine erst einmal interessant. Ob es nur modisch dahergesagt wurde, aus Werbezwecken oder tieferen Beweggründen – die Wahrheit liegt wie bei allen Terroirspekulationen im Glas.

Gruß, Kle
—People may laugh as they will—but the case was this.
Tristram Shandy
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_AL_

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Re: Terroir - wer hat Recht?

BeitragMo 26. Dez 2011, 22:53

Kle hat geschrieben: ... da beginnt der faszinierende „Wahnsinn“ ...


Schöne Formulierung. Erinnert mich an eine Anekdote bei einer spontanen Mini-Weinprobe mit Joh. Haardt, an einem unverschämt heissen Augusttag 2009 in Piesport. Er erzählte uns, dass einige von seinen japanischen Besuchern direkt zum Weinberg gegangen seien und am Schiefer gerochen und geleckt hätten, um den Geschmack seiner Rieslinge zu erkunden. Wenn das keine Terroirforschung ist ... ;)

Viele Grüße
Alexander
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Bernd Schulz

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Re: Terroir - wer hat Recht?

BeitragMo 26. Dez 2011, 23:10

Leider werde ich persönlich kaum je eine solche Wahrheit schmecken können und verstehe das Wort ganz naiv, pragmatisch und positiv. Nimmt ein Winzer es in den Mund, bezieht er sich auf eine Idee, einen Anspruch. Das macht seine Weine erst einmal interessant. Ob es nur modisch dahergesagt wurde, aus Werbezwecken oder tieferen Beweggründen – die Wahrheit liegt wie bei allen Terroirspekulationen im Glas.


Diese vier Sätze gehören in ihrer Bündigkeit für mich zum Gescheitesten, was ich jemals über das Thema *Terroir* gelesen habe. Chapeau, Carsten - so treffend würde ich selber auch gerne formulieren können!

Eigentlich wollte ich hier noch einige Bemerkungen zur Löwensteinschen Anthro-Dresche loswerden. Ich selber bin nun alles andere als ein direkter Jünger Steiners, aber solche pauschalen Schwarzweißurteile über Rudi und die Biodynamik hätte ich vom Maître aus Winningen eher nicht erwartet. Mangels hinreichender Energie verkneife ich mir jetzt den Verweis auf konkrete Punkte.

Beste Grüße

Bernd
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octopussy

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Re: Terroir - wer hat Recht?

BeitragMi 28. Dez 2011, 14:08

Hallo Kle,

die Theorie von Herrn Scheuermann zeugt tatsächlich von Chuzpe, wobei ich dieses Wort in dem Zusammenhang dann doch euphemistisch finde.
Theorie an
-einige rare hochklassige Güter bemühen sich seit Generationen darum, die Besonderheit ihrer klimatischen, meteorologischen Bedingungen etc. in ihren Weinen hochgradig und kontinuierlich auszudrücken. Es handelt sich um eine von vielen möglichen Interpretationen, die aber in sich folgerichtig ist. Und wurde ein bestimmter Weg erst einmal eingeschlagen, liegt die Kunst darin, ihn evolutionär und in emphatischer Reaktion auf sich verändernde Gegebenheiten fortzusetzen. Weinberg und Weinkeller sind bald unentwirrbar verflochten. Auch die menschliche Tätigkeit der Vergangenheit fließt in die Würdigung des Terroir ein und prägt sie in der Gegenwart wie die Rebensorten oder Regenperioden.

Bis hierhin finde ich die Theorie von Herrn Scheuermann sehr schlüssig und gut formuliert.

Die produzierten Weine sind nicht unbedingt besser als andere, aber eben Terroir-Weine, die von Verkostern mit jahrelanger Erfahrung erkannt werden können.

Auch das kann ich im weitesten Sinne noch nachvollziehen.

Mehr noch: Terroir benötigt ein Komplement, den quasi kongenialen Verkoster, um zum (Bewusst-)Sein zu gelangen. Die „Objektivität“ ergibt sich demnach aus der Historie gespiegelt im Wein, der auf der Zunge des Verkosters seine Wahrheit offenbart. Subjekt, Objekt, Vergangenheit, Gegenwart alles eins.
Theorie aus.

Ab hier stürzt die Theorie leider in den Bereich ab, den man Chuzpe, aber auch Selbstherrlichkeit nennen kann (vorausgesetzt, Herr Scheuermann zählt sich selber zu den "quasi kongenialen Verkostern").

Erstens (v)erklärt die Theorie Terroirrezeption zu einer elitären Angelegenheit, die sich nur einigen auserwählten Wundergaumen erschließt. Ich bin zwar durchaus auch der Meinung, dass man jahrelange Erfahrung braucht, um den Kerncharakter von Weinen unabhängig von externen Einflüssen (z.B. Moden wie stark getoastetes Barrique) besser beurteilen zu können. Es gibt aber auch einen Bereich zwischen den ersten interessierten Schlücken und dem Status als "Wundergaumen" und auch zwischen einer Erkennbarkeit auf Makroebene (z.B. die Traubensorte, die Bodenart oder die Herkunfts-Appelation) und einer Erkennbarkeit auf der Mikroebene (z.B. "ein Riesling aus dem Erdener Treppchen"). Die Theorie von Herrn Scheuermann radiert diesen sehr großen Zwischenbereich mehr oder weniger aus.

Zweitens stört mich an der Theorie die etwas krude Rollenverteilung zwischen Winzer und Verkoster. Natürlich hat Herr Scheuermann auch hier in gewisser Weise recht, nämlich insofern als jedes "Terroir" im Wein nur zur Geltung kommen kann, wenn es (durch wen auch immer) rezipiert wird. Nur klingt die Scheuermann'sche Theorie für mich so, als würde die "Wahrheit" des Terroirweins nicht hauptsächlich von dem Winzer stammen, sondern von dem begnadeten Verkoster, der diese Wahrheit erkennt. Zum Vergleich stelle man sich vor, ein Kunstkritiker würde behaupten, ein Bild könne nie für sich ein gelungener Ausdruck eines bestimmten Stils oder einer bestimmten Epoche sein, sondern bekäme seine stilbildende oder -prägende Eigenschaft erst dadurch, dass ein erfahrener und begnadeter Kunstkritiker die Stilbildung bzw. -prägung erkennt und zum Ausdruck bringt. Die wahre Schöpfung liegt also nicht im Schaffen, sondern erst in der Rezeption. Leider bin ich kunsthistorisch nicht bewandert genug, um zu wissen, wie viele Kunstkritiker die Chuzpe gehabt haben, eine solche Theorie zu äußern.

Der große Irrtum in der Scheuermann'schen Theorie liegt für mich in den folgenden beiden Sätzen:

Die „Objektivität“ ergibt sich demnach aus der Historie gespiegelt im Wein, der auf der Zunge des Verkosters seine Wahrheit offenbart. Subjekt, Objekt, Vergangenheit, Gegenwart alles eins


Denn nach der Scheuermann'schen Theorie braucht es zum Erkennen der "Wahrheit" des Weines einen nahezu gottgleichen Verkoster, der die Fähigkeit hat, "Wahrheit" zu erkennen. Unklar bleibt, wer die ausreichende Qualifikation dieser auserwählten Verkoster eigentlich festlegt. Und subjektiv differierende Meinungen unterschiedlicher Verkoster, die die von Herrn Scheuermann als Grundvoraussetzung geforderte jahrelange Erfahrung und Kongenialität haben, müssten nach seiner Theorie eigentlich ausgeschlossen sein. In der Realität sehe ich eher das Gegenteil ;).

Daher kann ich mit deiner eigenen "Theorie"...

Kle hat geschrieben:Leider werde ich persönlich kaum je eine solche Wahrheit schmecken können und verstehe das Wort ganz naiv, pragmatisch und positiv. Nimmt ein Winzer es in den Mund, bezieht er sich auf eine Idee, einen Anspruch. Das macht seine Weine erst einmal interessant. Ob es nur modisch dahergesagt wurde, aus Werbezwecken oder tieferen Beweggründen – die Wahrheit liegt wie bei allen Terroirspekulationen im Glas.


...wie auch Bernd Schulz deutlich mehr anfangen :D.
Beste Grüße, Stephan
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Charlie

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Re: Terroir - wer hat Recht?

BeitragMi 28. Dez 2011, 14:57

Das war zu viel der Ehre für Scheuermann
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Kle

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Re: Terroir - wer hat Recht?

BeitragMi 28. Dez 2011, 19:25

Hallo Stephan,

Du hast klare Argumente, aber bitte Vorsicht: Wir reden über die Theorie des Weinreporters so wie ich sie verstanden und interpretiert habe, nachdem ich mit ihr vor Jahren im Terroir-Forum von TAW konfrontiert wurde. Er würde sich mit Sicherheit gegen viele Implikationen und Schlussfolgerungen verwahren. Meine Kritik an dem Modell, wie ich sie bereits damals formulierte, fließt in meine Deutung ein. Die Faszination bleibt, weshalb ich hier überhaupt darüber geschrieben habe. Deine Anmerkungen zeigen mir, dass ich mich immerhin einigermaßen verständlich ausgedrückt habe: Ja, da liegen die Knackpunkte . Die „Rezeption“ hat aber keinen Vorteil gegenüber dem „Objekt“. Es gibt keine Trennungen. Kunstphilosophisch würde ich die Theorie, so wie ich sie deute, in die Nähe von Martin Heidegger mit einer ordentlichen Prise Hegel rücken.
Dieses Meta-Terroir-Modell und meine kleinen Überlegungen (Bernd vielen Dank – zu viel der Ehre) sind das, was mir ernsthaft und alltäglich zum Begriff einfällt.
Bei der Diskussion zwischen Markus Vahlefeld und Reinhard Löwenstein ist mir noch nicht recht klar, worüber die beiden streiten. Am ehesten über Steiner. Ansonsten habe ich das Gefühl, „terroir“ wird bei ihnen gleichgesetzt mit Authentizität und einer gewissen Rechtschaffenheit. Löwensteins o3 er Essay erschien mir radikaler.
Wie problematisch der Begriff ist, wenn man ihn eingrenzt, wird bei Markus Vahlefelds Vergleich mit der Musikindustrie deutlich. Die arme Amy Winehouse soll also Terroir -Musik gemacht haben. Ja, „terroir“ scheint durch, aber ebenso sein Missbrauch im letztlich verkäuflichen Produkt. Der Vergleich mit der Musik ist insofern gut, um zu beweisen, dass es terroir nicht gibt. Nehmen wir ein anderes Beispiel, einen vermeintlichen terroir-Musiker par excellence: Bob Dylan. Ihm wird nachgesagt, kompromisslos seiner eigenen Nase zu folgen und Erwartungen des Marktes – der Kunden – immer wieder zu enttäuschen, um dem eigenen Weg treu zu bleiben. Seltsamerweise geht dieser Weg aber alle paar Jahre in eine andere Richtung. Und er selbst schildert, wie er immer und immer wieder das Gefühl verliert „echt“ zu sein und mitten in Konzerten seine Stimme verliert. Dieser „Verlust des Terroir“ versuchte er durch bestimmte Techniken auszugleichen – durch Technik – die das verlorene Terroir in gewisser Weise simulierten. Der Wunsch, authentisch und ehrlich zu sein, führt hier zu Verzweiflung, Abhängigkeit, kuriosen Auswegen und auch dem unerwarteten, nicht planbarem Gefühl: Hier ist es wieder.

Gruß, Kle
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Tristram Shandy
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Birte

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Re: Terroir - wer hat Recht?

BeitragMi 28. Dez 2011, 21:44

Bei der Diskussion zwischen Markus Vahlefeld und Reinhard Löwenstein ist mir noch nicht recht klar, worüber die beiden streiten. Am ehesten über Steiner.


Interessant. Ich hatte noch keine Zeit mir das alles genau durchzulesen. Folgt noch. Aber da mich Steiner gerade auf anderem Gebiet sehr beschäftigt, sind Informationen im Zusammenhang Terroir sehr spannend. Erklärt mal...
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