Gerald hat geschrieben:Aber ich kann mir schon vorstellen, dass die Wahrnehmung der Verkosters wesentlich häufiger für die Unterschiede verantwortlich ist. Zumindest bei meinem täglichen Espresso (Ausgangsprodukt und Zubereitung sollten ja eigentlich immer gleich sein) fällt mir schon auf, dass er nicht immer gleich schmeckt.
Und wenn man - jetzt wieder bei Wein - vorher schon andere Weine probiert hat, dann wird es ohnehin extrem. Irgendwo im Forum (finde es leider nicht mehr auf die Schnelle) war doch eine Studie zitiert, wo selbst Profiverkoster einem heimlich in der Verkostungsreihe nocheinmal "eingeschmuggelten" gleichen Wein im Schnitt um die 4 Punkte mehr oder weniger gegeben haben.
Genau so ist es. Entscheidend bei der Wahrnehmung ist, "woher man kommt". Ein und dieselbe Raumtemperatur wird völlig unterschiedlich wahrgenommen, je nachdem, wie warm oder kalt der Raum war, in dem man sich vorher aufgehalten hat.
"Woher man kommt" kann dabei in zig Unterkategorien aufgeteilt sein: persönliche Stimmung, vorher konsumierte Speisen/ Getränke, Erwartungshaltung, gesundheitlicher Zustand (bis hin zur Mundflora), Anwesenheit von Gesellschaft, Konzentrationsvermögen, Verkostungsraum und Temperatur (ganz schlimm: an der frischen Luft), Begleitgerüche (z.B. aus der Küche), Wahl des Glases etc. pp. ...
Alle diese Faktoren wirken sich meines Erachtens in ihrem jeweiligen Zusammenspiel immer und z.T. drastisch aus und, sorry, ich nehme es einfach niemandem ab, der behauptet, in der Regel Wein gleich wahrnehmen und bewerten zu können. Aber jeder kann es ja selbst für sich testen und sich blind 10 Weine vorsetzen lassen, die er in den letzten 3 Monaten getrunken hat. Ich würde behaupten, davon werden nicht nur 1-2 Weine unterschiedlich eingeschätzt, sondern deutlich mehr (ganz zu schweigen davon, ob man sie überhaupt noch erkennt und eindeutig zuordnen kann). Außer natürlich, wenn man selbst einen Verkostungsstil hat, der mit wenigen und immer denselben Kategorien auskommt, und die range zur Bewertung der Weine sehr eng gefasst ist. Wer bspw. fast jedem einfachen Basiswein bereits 88-90 P verpasst wird natürlich kaum Punktevarianzen festellen. Bekommt ein wirklich gelungener Gutswein jedoch 85 P, so wie das früher noch üblich war, ein wirklich gelungenes 1. Gewächs so 90-91 P und ein wirklich gelungenes GG ca. 95 P, dann sieht das schon anders aus.
Sollten diese Überlegungen richtig sein, dann eröffnet sich auch ein anderer und bereichernderer Zugang zum Wein. Dann geht es nämlich nicht mehr um diese alberne und unfassbar langweilige Frage, wer denn nun den besseren oder treffenderen Geschmack hat (und schon gar nicht darum, die absurdesten Aromen rausschmecken und differenzieren zu können), dann geht es vielmehr darum, sich selbst infrage stellen zu können und nachspüren zu können, ob die Wahrnehmung des anderen einem nicht selbst einen bereichernden Zugang zum Wein eröffnet. So sind es bei mir gerade die gemeinsamen Verkostungen mit Alex und Carsten, durch die ich in der Regel einen völlig neuen Blick auf einen Wein gewinne (es ist immer dieselbe Flasche, also nix von wegen Flaschenvarianzen), und in den meisten Fällen muss ich dann festellen. dass ich erst durch sie einen Wein in Facetten wahrnehmen konnte, die meiner subjektiven Wahrnehmung verschlossen blieben. Und genau deshalb lese ich auch hier mit...