Und da soll es Touristen geben, so überassimilierte, die einmal angekommen mit einem Schlag französischer als die Franzosen sind (mit dem Unterschied, dass emeritierte Oberstudienräte gerne mit sehr deutsch akzentuiertem Französisch Marius oder Jeanot am Tri selectif erklären, wie Mülltrennung wirklich geht). Sie kleiden sich in Ringelhemd und Baskenmütze, tragen Espandrilles, ein Baguette unterm Arm, mischen sich am Boulodrome unter die Einheimischen (was nicht überall goutiert wird) und kaufen sich am Sonntag den Figaro.
Diese Zeitgenossen sind nicht ganz unschuldig daran, dass sich eine französische Eigenart inzwischen in fast ganz Europa etabliert hat, und zwar die typische Begrüßung, la bise, ein Wangenkuss, der in Frankreich einer unerklärlichen und immer wieder anderen geheimen Choreographie zu folgen scheint.
Bei uns ist es recht einfach, Küsschen links, Küsschen rechts, je nach gesellschaftlichem Anlass (zB der wichtigen Wahl des Supermodels) von einem dumpf gehauchten "mpoa mpoa" begleitet, und gut ist.
Nicht so in Frankreich, da wird die ganze Biserei unterschiedlich gehandhabt, mal drei mal, mal zwei mal, sogar vier bises wurden schon beobachtet, mal links beginnend, mal rechts, mal kurz vor Erreichen des Körperkontakts abbrechend, mal mit festem Aufprall – jede Menge Fuß- oder eher Kussangeln für den Fremden, der regelmäßig wenn einer bise ausgesetzt entweder mit der falschen Seite anfängt, zu viele oder zu wenige Wiederholungen ansetzt, so dass die freundliche Geste in ineinander verhakten Brillen, zusammenprallenden Stirnen oder Lippenstiftstreifen endet – etwas, was Franzosen nie passiert. Da muss es irgendein verborgenes Signal geben, wahrscheinlich im genetischen Code angelegt, an dem man erkennt, wie man im Einzelfall zu bisen hat.
Die gern gegebene Erklärung, im großstädtischen Bereich vollziehe man eher weniger Wiederholungen, im ländlichen mehr ist nur eine sehr grobe Annäherung an das Phänomen, habe ich festgestellt. Obwohl, meine erste Austauschmutter, eine sehr bodenständige bretonische Gemüsebäuerin pflegte etwas abschätzig von ihrem Erstgeborenen zu reden, der nämlich nach erfolgreichem Ingenieurstudium in Paris bei Simca arbeitete (die Älteren unter uns erinnern sich, das war mal ein angesehener französischer Automobilhersteller) anstatt den elterlichen Betrieb zu übernehmen und außerdem eine Pariserin geheiratet hatte, eine Dame also von dort wo man doch – Gipfel der Dekadenz – nur zweimal die bise mache. Bei Madame wurde dreimal gebist, wie es sich gehöre.

Und dann lernte ich kürzlich Madame Gratiot kennen. Madame ist Inhaberin des kleinen handwerklich arbeitenden Champagnerhauses Gratiot-Delugny aus Crouttes sur Marne. Die Umstände unseres Zusammentreffens sind schnell erzählt, ein befreundeter Weinhändler hat ihre Produkte ins Sortiment genommen, spricht aber kaum Französisch und bat mich, bei einer Dienstbesprechung mit Madame zu übersetzen.
Das Treffen fand am Pro-Wein-Sonntag abends bei Händlers in der Probierstube statt, sowohl Madame als auch einige andere Winzer hatten die Gelegenheit ergriffen, ein paar Lieferungen gleich vorbeizubringen, sparte man so doch Frachtkosten. Und dann ließ sich natürlich auch keiner lumpen und öffnete ein paar Flaschen der eigenen Gewächse und ließ reihum probieren.
Das dienstliche Gespräch verlief angenehm professionell und tut hier nichts zu Sache, aber dann stellten Madame und ich fest, dass wir uns doch recht sympathisch waren und plauderten weiter miteinander, tauschten Kochrezepte und Internettipps aus und kommentierten die ausgeschenkten Weine. Madame war es sehr wichtig, mir den Unterschied eines Récoltant manipulant (Eigentümer, verabeitet nur eigenes Rebmaterial) zu allen anderen Betriebsformen in der Champagne zu erklären. Natürlich ist das Haus Gratiot-Delugny ein RM (Franzosen lieben Abkürzungen). Danach erklärte mir Madame ihre unterschiedlichen Champagner und zu welcher Gelegenheit man welchen trinken solle, welcher sich eher für süße und welcher sich für herzhafte Speisen eigene, welchen man morgens zum Empfang und welchen abends zum Apéro genießen solle.
Und dann ging es an die Verabschiedung und Madame meinte, nun kenne man sich gut genug, und ich möge Sie doch Lucette nennen und ich sei Süh-sann und très sympa und deswegen mache man jetzt die bise und dann im Kommandoton: "Trois bises, commence à droite!" Aha!


An jenem Abend hatten wir das Flaggschiff der Gratiot-Delugnyschen Produktion getrunken, wirklich ein wunderbarer Champagner, der sich inzwischen auch in meinem Keller findet
2002 Champagne brut Millesime
Gratiot-Delugny
ein reiner Chardonnay-Champagner von zartgelber Farbe und einem zart mineralischem und floralem Duft, am Gaumen eine sanfte Perlage, feiner Schmelz, Aromen von Äpfeln und Birnen, Zitrusaromen, Honig und ein langer recht filigraner Abgang.
Der Champagner ist ein perfekter Opener für ein großes Menü, laut Lucette der perfekte Champagner für den Apéro am Abend zu ein paar exquisiten Häppchen mit Lachs, Hummer oder Kaviar, ich kann ihr da nur zustimmen, würde ihn aber durchaus auch zu einem Perlhuhn in Halbtrauer (pintade demi deuil) nicht verschmähen.
Prost!