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Additive Önologie

Verfasst: Fr 18. Feb 2011, 13:07
von Gerald
Nachdem das Thema in den letzten Tagen sehr heftig, aber mit eher mäßigem Niveau :cry: an verschiedenen Stellen diskutiert wurde: vielleicht ist es hier möglich, sachlich und konkret über die Möglichkeiten der Winzer und die Erwartungen der Konsumenten zu sprechen. Glücklicherweise sind die für die Eskalation (u.a. auf Dirks Blog) Verantwortlichen hier ja gar nicht registriert, daher sehe ich die Chance gut.

Konkret entzündet hat sich die Streiterei ja am Thema Gummi arabicum im Wein. Die Substanz ist ein natürliches Polysaccharid (gehört also zur gleichen Stoffklasse wie Stärke oder Cellulose) und gibt dem damit behandelten Wein mehr "mouthfeeling". Gummi arabicum ist gesundheitlich völlig unbedenklich, als weinfremder Zusatz aber natürlich umstritten.

Meine persönliche Meinung zu dem Thema: Wein ist nun mal nicht einfach vergorener Traubensaft, er wird ganz wesentlich durch Zusätze bestimmt. Beispielsweise wäre ein Wein ohne Sulfitzusatz nicht das, was wir alle uns unter Wein vorstellen. Wo natürlich genau die Grenze des Akzeptablen liegt, ist sicherlich individuell unterschiedlich. Nur die Idee, dass ein Wein völlig naturbelassen sein (im Idealfall mit den Füßen gepresst und spontan vergoren ohne jegliche Zusätze) und gleichzeitig gut schmecken soll, ist wohl etwas unrealistisch ...

Im übrigen ist auch der Gebrauch neuer Barriques ein klassischer Fall von additiver Önologie, an der sich nur anscheinend niemand stößt.

Was denkt ihr zu dem Thema?

Grüße,
Gerald

Re: Additive Önologie

Verfasst: Fr 18. Feb 2011, 14:05
von weinfex
Ganz kurz zu der "Niveaukerbe", es ist mir unerklärlich, was
manche Mitmenschen unter Diskussion verstehen, bzw. sie führen...

Zum Thema selbst, einfach die Kirche im Dorf lassen, wer meint das
Wein ohne jegliche Eingriffe und Hilfsmittel entsteht/entstehen kann, soll dies glauben,
mit der Realität hat das allerdings so gut wie nichts zu tun...

Re: Additive Önologie

Verfasst: Fr 18. Feb 2011, 14:48
von kristof
Fand ich im Zusammenhang mit Gummi Arabicum ganz interessant:

http://www.erbsloeh.com/de/ratgeber/Wei ... abicum.pdf

Re: Additive Önologie

Verfasst: Fr 18. Feb 2011, 15:03
von Gerald
Danke für den Link, da steht ohnehin schon viel Interessantes drin. Zwei Aspekte finde ich besonders bemerkenswert:

a) in den Herkunftsländern (überwiegend sehr arme Länder!) ist das Produkt ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Wenn man so wie die Korkindustrie argumentiert, dann müsste man ja Gummi arabicum verpflichtend als Weinzusatzstoff vorschreiben ;)

b) Gummi arabicum gibt dem Wein einen fülligen Gaumeneindruck. Genau dasselbe (im übrigen auch teilweise durch Polysaccharide verursacht) kann der Winzer ja auch ohne Zusatzstoffe durch bestimmte Verfahren (z.B. längeres Verbleiben auf der Hefe mit Aufrühren, siehe http://www.schneider-oenologie.de/dnn/L ... 62&mid=434) erreichen.

Die Sache erinnert ein bisschen an die Geschmacksverstärker in Lebensmitteln. Da inzwischen verpönt, geben viele Hersteller nun statt synthetischem Glutamat gereinigten Hefeextrakt in ihre Produkte. Das Resultat ist dasselbe, es sieht aber gleich viel natürlicher aus ...

Grüße,
Gerald

Re: Additive Önologie

Verfasst: Fr 18. Feb 2011, 15:19
von Michael Pronay
Saftabzug und Aufbesserung bei der Rotweinbereitung ist dann natürlich ebenfalls additive Önologie.

Anstatt dessen dem Most Wasser zu entziehen, wäre dann wohl logischerweise subtraktive Önologie, oder?

Re: Additive Önologie

Verfasst: Fr 18. Feb 2011, 17:02
von Gerald
Na ja, nach meinem Verständnis wäre Saftabzug auch subtraktive Önologie - wenn wir diese neue Wortschöpfung verwenden wollen. Dass da nichts traubenfremdes zugesetzt wird, sondern nur bestimmte unerwünschte Komponenten teilweise oder komplett entfernt werden, klingt auf den ersten Blick sympathischer. Trotzdem wird sie in der - mit "Weinwissen" leicht zu manipulierenden, pardon beeindruckenden ;) - Öffentlichkeit nicht selten als problematischer als fremde Zusätze gesehen. Beispielsweise dass Chaptalisierung (Aufzuckerung) meist akzeptiert wird, Mostkonzentration (wo nur Wasser entfernt und nichts hinzugefügt wird) aber nicht.

Die öffentliche Akzeptanz ist für mich ohnehin oft fern von jeglichem Realitätssinn. Zum Beispiel:

Eichenholz: in Form kleiner Fässer = gut / kleingeschnitten = böse

Wasserentzug: an der Luft (z.B. Strohwein) = gut / mit Osmose = böse (obwohl die Strohweinproduktion bestimmt durch die Temperatur und den Sauerstoff mehr verändert)

Vielleicht ist es aber ohnehin ganz einfach: traditionell = gut, neue Technologie = böse. Hoffen wir, dass niemand die jahrhundertalte Methode, Wein durch Zusatz des (hochgiftigen) "Bleizuckers" attraktiver zu machen ...

Grüße,
Gerald

Re: Additive Önologie

Verfasst: Fr 18. Feb 2011, 17:25
von octopussy
weinfex hat geschrieben: Zum Thema selbst, einfach die Kirche im Dorf lassen, wer meint das
Wein ohne jegliche Eingriffe und Hilfsmittel entsteht/entstehen kann, soll dies glauben,
mit der Realität hat das allerdings so gut wie nichts zu tun...
Das mag ja sein. Mich interessiert trotzdem, was für Eingriffe und Hilfsmittel wo zum Einsatz kommen, damit ich anschließend entscheiden kann, ob ich das durch den Kauf eines bestimmten Weins unterstützen möchte oder nicht. Ich glaube ja auch beim Wein noch an einen Nachfrage-gesteuerte Marktwirtschaft, wobei das Angebot beim Wein sicherlich in starkem Maße die Nachfrage steuert. Als Konsument möchte ich aber nicht ganz meine Augen verschließen, sondern gerne jedenfalls im Grundsatz wissen, wie der Wein entstanden ist, den ich trinke.

Ich denke, dass ein Großteil der durch technische/chemische Hilfsmittel erzielten Ergebnisse bei der Weinbereitung mit ausreichend Erfahrung, Arbeit und Zeit auch durch natürliche Maßnahmen erreicht werden kann. Das führt dann u.U. zu höheren Preisen, da mehr menschliche Arbeit erforderlich ist und das Ganze auch ggf. länger dauert (z.B. weil der Winzer eine langsame Gärung gut findet oder eine lange Fassreife). Aber den höheren Preis nehme ich dann gerne bis zu einer gewissen Grenze in Kauf.

Mir persönlich wird es beim Wein immer wichtiger, zu wissen, wie der Wein, den ich trinke, hergestellt wurde, vom Weinberg bis in die Flasche. Denn wenn ich das weiß, am besten auch noch, warum ein Winzer diese oder jene Philosophie hat, wird für mich doch um einiges mehr Persönlichkeit und Seele transportiert als wenn ich nach den Punkten irgendwelcher Weinjournalisten oder -kritiker gehe.

Re: Additive Önologie

Verfasst: Fr 18. Feb 2011, 17:36
von weinfidél
Und wenn's denn auch noch ums Thema Biowein gehen sollte, kann/darf ich auf folgende Links verweisen, auf die ich dank eines Kommentars von Iris Rutz-Rudel vom Weingut Lisson gestoßen bin:

http://weingut-lisson.over-blog.com/art ... 84888.html

http://weingut-lisson.over-blog.com/art ... 74727.html

http://weingut-lisson.over-blog.com/art ... 724-6.html

fidélst
Rico

Re: Additive Önologie

Verfasst: Fr 18. Feb 2011, 17:52
von Gerald
Hallo Stephan,
Mich interessiert trotzdem, was für Eingriffe und Hilfsmittel wo zum Einsatz kommen
klar, das ist sicher für jeden Weinliebhaber interessant. Nur wenn man das auf die "additiven" Verfahren beschränkt (so wie die Liste bei Lebensmitteln), fehlen einfach viele physikalische Verfahren, die mindestens genauso wichtig sind. Beispielsweise die Filtration, die Mostkonzentration oder auch die in manchmal als "Frankenstein-Maschine" bezeichnete SCC. Bei Lebensmitteln müsste so etwas gar nicht angegeben werden, daher wird es schwierig sein, so etwas beim Wein zu fordern.

Abgesehen davon hätte eine vollständige Angabe gar nicht Platz auf dem Etikett, man müsste einen Beipackzettel (wie bei Medikamenten) :) zu jeder Flasche Wein mitgeben.
Ich denke, dass ein Großteil der durch technische/chemische Hilfsmittel erzielten Ergebnisse bei der Weinbereitung mit ausreichend Erfahrung, Arbeit und Zeit auch durch natürliche Maßnahmen erreicht werden kann.
das steht und fällt mit der Frage, was jetzt natürliche Maßnahmen sind. Sind Barriques eine natürliche Maßnahme? Zuckerzusatz? Kältebehandlung? Zusatz von Eiklar zur Klärung? Nach meiner persönlichen Einschätzung ist diese Frage nicht eindeutig zu entscheiden und eignet sich daher herrlich für Polemik.

Grüße,
Gerald

Re: Additive Önologie

Verfasst: Fr 18. Feb 2011, 18:18
von weinfex
Hallo Stephan,

ich bin da ganz bei Gerald, im Endeffekt und zugegebenermassen
nicht wirklich vergleichbar, aber zumindest in gewisser Weise
ähnlich subjektiv, ist die Abgrenzung "wo fängt natürlich an, wo hört
natürlich auf", ähnlich subjektiv wie eine Weinbewertung...