"Traditioneller" und "Moderner" Bordeaux

Medoc und seine Appellationen, Bourg und Umgebung, Fronsac, Pomerol, Saint Emilion und Umgebung, Entre Deux Mers, Graves und Pessac-Leognan, Sauternes und Co.
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octopussy
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"Traditioneller" und "Moderner" Bordeaux

Beitrag von octopussy »

Hallo zusammen,

heute lag im Postfach eine Email von John Gilman mit einer Liste von "traditional styled Clarets", nach der er von mehreren Lesern gefragt worden war. Für die, die John Gilman nicht kennen. Er ist ein Weinjournalist, der einen im Zweimonats-Rhythmus erscheinenden Newsletter herausgibt. Seine Spezialgebiete sind Bordeaux, Burgund, Beaujolais, Loire, Champagne, Piemont und Kalifornien. Gilmans "USP" dürfte darin liegen, dass er teils sehr vehement von ihm als modern empfundene Weine ablehnt und sich (wie einige andere auch) als Antipod zu Parkers Geschmack geriert. Bewertungen deutlich unter 70 oder sogar 60 Punkten für Weine wie Troplong-Mondot sind bei ihm nicht außergewöhnlich. Man mag davon halten, was man will. Ich persönlich kann mit seinen Bewertungen häufig nichts bis gar nichts anfangen, weil sie mir zu prinzipiell bzw. dogmatisch sind. Gleichwohl sind seine Reiseberichte und auch die ausführlichen Verkostungsnotizen für mich schon häufig interessant, weshalb ich den Newsletter abonniere.

Hier ist die Liste zur Diskussion. Es gibt keine objektiven Kritieren für die Liste (z.B. Alkoholwerte, % von Neuholz, usw.). Es ist eine rein subjektive Liste, die sich an dem Geschmacksgefühl von Gilman orientiert. Wie seht ihr die Liste? Fehlen "traditionell" schmeckende Bordeaux? Sind welche enthalten, die eigentlich doch eher "modern" schmecken?

Ich weiß, es ist ganz schwer, zu sagen, was eigentlich modern und was traditionell bedeuten soll. Ich persönlich könnte dies abseits einiger Extrembeispiele nicht definieren. Gleichwohl ist die Liste vielleicht von Interesse.

Pomerol
La Conseillante
Certan de May (though a bit over-oaked these days)
L'Evangile
La Grave
Hosanna
Lafleur
Lafleur-Gazin
Lafleur- Pétrus
Latour à Pomerol
Pétrus
La Pointe
Providence
Trotanoy
Vieux Château Certan

St. Émilion
Bélair-Monange
Canon
Corbin
Cheval Blanc
Figeac (up through 2011)
Magdelaine (up through 2011)
La Serre

Graves
La Louvière (through 2011)
Haut-Bailly (again, a bit oaky these days)
Latour-Martillac (since 2006)

Médoc and Haut Médoc
Beaumont
Cantemerle
Chasse-Spleen
Fonréaud
La Lagune
Lannesan
Laujac
Potensac
Sociando-Mallet
La Tour de By

Margaux
Ferrière
D’Issan
Palmer
Prieuré-Lichine (bit spit-polished, but still with old school soul)
Rauzan-Ségla
Rauzan-Gassies

St. Julien
Beychevelle
Lagrange
Ducru-Beaucaillou
Gruaud-Larose
Talbot

Pauillac
Croizet-Bages
Grand Puy Lacoste
Haut Bages Libéral
Latour
Lafite-Rothschild
Lynch-Bages
Pichon-Lalande
Pichon-Baron (though very oaky these days)
Pontet-Canet

Ste. Estèphe
Calon-Ségur
Montrose
Phelan-Ségur
Tronquoy-Lalande
Beste Grüße, Stephan
weinfex
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Re: "Traditioneller" und "Moderner" Bordeaux

Beitrag von weinfex »

Hallo octopussy,

wie immer liegt es im Auge des Betrachters, wen man wo dazuzählt.

Irritierend finde ich z.B., dass ein Name wie Providence auf der
Liste auftaucht, der da meines Erachtens überhaupt nichts zu suchen hat.
Ich kann mich an keinen Wein erinnern, der in der Nase einem verbrannten Toastbrot
mehr ähnelt als er. Dazu eine wirklich "schwarze Farbe" (mit Sicherheit in der Top 5
im Top Bordeaux Bereich) und hochextrahierter Extrakt.
Für mich persönlich ist da Troplong Mondot noch "angenehmer" zu verkosten.... :?

Ich denke traditionell im Sinne "wie von vor 20 - 30 Jahren" gibt es heute nicht mehr!
Grüsse weinfex
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harti
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Re: "Traditioneller" und "Moderner" Bordeaux

Beitrag von harti »

Hallo Stephan und Andreas,

bei einer Reihe von Weinen kann ich nachvollziehen, dass sie auf der Liste sind, weil sie vielleicht die Anmutung eines traditionellen Geschmacks haben. Andererseits verwundert mich, dass andere Weine, die ich ebenfalls in diese Kategorie einordnen würde (z.B. Batailley, Léoville-Barton), nicht erwähnt werden. Andere würde ich persönlich nicht als traditionell bezeichnen (z.B. Haut-Baily und La Lagune).

Das Problem ist in der Tat die Definition von "traditionell". Wenn wir die Produktionsmethoden zum Maßstab machen, ist keines der großen Bordeaux-Güter mehr traditionell. Nehmen wir z.B. Lagrange: Hier ist der Weinkeller hochtechnisiert, Lesepartien werden in unterschiedlich großen Stahltanks vergoren, natürlich mit Reinzuchthefen und temperaturgesteuert, alles überwacht mithilfe einer hochmodernen Schaltzentrale. Im Keller wird absolut nichts dem Zufall überlassen.

Selbstverständlich gilt dies auch für die Weinbergsarbeit; auch auf Lagrange wird nicht mehr nach Altvätersitte gearbeitet. Vendange verte, Laubwandarbeit und penible Traubenselektion sind selbstverständlich.

Generell bestehen zwischen den Chateaux Unterschiede bezüglich des angestrebten Grades der Traubenreife, dem Umfang der Extraktion, dem Einsatz von Mikrooxigenation und dem Anteil von Presswein. Reicht das aber aus, um traditionell und modern zu definieren?

Grüße

Hartmut
Weinbertl
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Re: "Traditioneller" und "Moderner" Bordeaux

Beitrag von Weinbertl »

mir fehlen da einige Weine, die ich als traditionell einstufen würde, ein paar Beispiele aus dem Kopf: Gloria, LLC, Tour Haut Caussan, Fieuzal.
Wichtig wäre natürlich zu wissen, wie weit die Bewertungsgrundlage zurückreicht. Wenn es bsp.weise die letzten 10 Jahre sind, kommt ein ganz anderes Bild raus, als wenn man bis in die 70er oder 80er zurückgeht.
Grüße
Robert
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susa
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Re: "Traditioneller" und "Moderner" Bordeaux

Beitrag von susa »

Ich vermute, der Herr setzt lediglich ein bestimmtes Geschmacksbild zum Maßstab, vollkommen unabhängig davon, wie es entsteht, also welche Produktionsmethoden, welcher Mechanisierungs/Technisierungsgrad dahintersteckt oder wie im Weinberg gearbeitet wird, das ist für diese Liste wohl ohne Belang.

Die Leos fehlen mir in der Tat alle auf der Liste, wiewohl ich für die jüngere Vergangenheit Poyferré nicht unbedingt mehr so einschätze.

lg
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octopussy
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Re: "Traditioneller" und "Moderner" Bordeaux

Beitrag von octopussy »

susa hat geschrieben:Ich vermute, der Herr setzt lediglich ein bestimmtes Geschmacksbild zum Maßstab, vollkommen unabhängig davon, wie es entsteht, also welche Produktionsmethoden, welcher Mechanisierungs/Technisierungsgrad dahintersteckt oder wie im Weinberg gearbeitet wird, das ist für diese Liste wohl ohne Belang.
So ist es. Hier ist ein Text dazu, wie die Liste zustandegekommen ist. Er war mir offen gesagt zu lang, deshalb habe ich nur ca. das erste Viertel gelesen :oops:.

http://www.wineberserkers.com/forum/vie ... &start=455

Was ich mich immer bei dieser "Tradition/Moderne" Debatte frage ist, wie wohl die Weine in 15 Jahren schmecken werden? Vielleicht integriert sich bei den holzigen Weinen das Holz? Vielleicht verlieren einige anfangs eher "traditionell" (im Sinne von ungehobelte Tannine) schmeckende Weine ihre Traditionalität mit der Zeit? Beurteilen kann man das eigentlich nur, wenn man die Weine a) jung und b) gereift getrunken hat und sich c) gut erinnern kann (Notizen sind das eine, Erinnerung das andere). Auch wenn ich bei dem ein oder anderen Wein angesichts der heutigen Profi-Verkostungsnotizen eher skeptisch bin und solche Weine nicht kaufe, kann es ja trotzdem sein, dass ein kontrovers beurteilter Weine wie Cos d'Estournel 2009 in 20 Jahren ein Traum ist?
Beste Grüße, Stephan
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susa
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Re: "Traditioneller" und "Moderner" Bordeaux

Beitrag von susa »

octopussy hat geschrieben: Auch wenn ich bei dem ein oder anderen Wein angesichts der heutigen Profi-Verkostungsnotizen eher skeptisch bin und solche Weine nicht kaufe, kann es ja trotzdem sein, dass ein kontrovers beurteilter Weine wie Cos d'Estournel 2009 in 20 Jahren ein Traum ist?
Das gehe ich ganz stark von aus :lol:

lg
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UlliB
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Re: "Traditioneller" und "Moderner" Bordeaux

Beitrag von UlliB »

Was mir zu der Liste einfällt: :shock: :? :?: :cry:

Gruß
Ulli
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octopussy
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Re: "Traditioneller" und "Moderner" Bordeaux

Beitrag von octopussy »

Hallo zusammen,

gestern Abend luden Carsten (Kle) und George (Burzuko) zu einem sehr spannenden Bordeaux-Abend unter dem Titel "25 Jahre Bordeaux", der sich glücklicherweise wenig "wissenschaftlich" mit einigen stilistischen Entwicklungen im Bordelais auseinandersetzen sollte. Mit der begleitend ausgeteilten Zitatsammlung werde ich mich beizeiten noch ein wenig näher beschäftigen. Probiert haben wir blind, wir wussten natürlich, dass Bordeaux auf den Tisch kommt.

Die ersten beiden Weine waren die folgenden:

1985 Château Léoville-Poyferré und
1985 Château Cos d'Estournel

Blind tippte ich beim Poyferré auf einen 2001er und beim Cos auf einen 2005er :oops:. Mit einer solch drastischen Fehleinschätzung war ich jedenfalls nicht allein. Erstaunlich war trotzdem, wie großartig beide Flaschen waren. Der Poyferré hat mir deutlich besser gefallen als der Cos, er war für mich der Wein des Abends. Wunderbar duftig, extrem elegant, Bordeaux in Reinkultur. Schöner kann ich mir einen Bordeaux vom linken Ufer in der bezahlbaren Preisklasse kaum vorstellen. Der Cos wirkte dagegen deutlich klotziger, auch gut auf seine Art, aber eben weniger elegant, monolithischer, Machohafter. Parker sah den 85 Poyferré bei 86 Punkten (immerhin ein Punkt mehr als der Jahrgang ;)), den 85 Cos bei 92 Punkten. Ich bin da eher bei Michael Broadbent, der den 85 Cos einen "Mammut" nennt, der für den Jahrgang sehr kräftig und strukturiert ist.

Sollte sich schon damals eine kleine Schere zwischen Modernität und Klassik zeigen, die weniger technikgetrieben und mehr getrieben von Entscheidungen im Weinberg und Keller (Extraktion, u.ä.) ist? Das ist schwierig zu beurteilen, aber der Poyferré wirkte auf mich deutlich klassischer. Unter Umständen zeigte sich hier aber auch nur ein Unterschied in den Terroirs - der elegante, weibliche St. Julien gegen den strengen, männlichen St. Estephe. Zu diesen Fragen können sicher die Bordeaux-Experten einige Anregungen geben.

Als Solitär hatten wir dann:

1990 Château Figeac

Den hatte ich vor gut einem Jahr schon einmal getrunken, war damals nur mittelmäßig begeistert, allerdings waren die Flaschen damals auch etwas zu warm serviert worden. Jetzt hat mich dieser 90 Figeac doch deutlich mehr berührt. Sehr elegant ist er, sehr würzig, sehr expressiv. Blind hatte ich ihn in den Graves verortet. Die Frage Klassik vs. Moderne stellte sich hier nicht.

Dann ging es weiter mit:

1995 Château d'Armailhac und
2005 Château d'Armailhac

Mit diesem 5ème Cru Classé Gut im Besitz des Rothschild Arms, dem auch Mouton und Clerc Milon gehört, habe ich mich zugegebenermaßen noch nie so richtig beschäftigt, ein 2001er ebenfalls bei Kle war jedoch wirklich ausgezeichnet. Hier hat mich der 1995er in besonderem Maße begeistert, er war letztlich ein klassischer Pauillac, sehr männlich in seiner Art, etwas streng, etwas linear, aber mit vielen Nuancen und Details und letztlich auch einem schönen Spiel. Der 2005er war zum einen sehr, sehr jung, zum anderen deshalb noch sehr unterentwickelt. Mit Luft entwickelte er sich eigentlich ganz gut, erreichte aber nie die Klasse des 1995ers.

Auch hier stellte sich natürlich die Frage Klassik vs. Moderne. Laut Kle fing eine bis heute andauernde Modernitätswelle im Bordelais in etwa 1995 an. Der 2005er war schon recht modern in der Stilistik, etwas laktische Noten, ein kleiner Holzanstrich, sehr reife Frucht deuteten darauf hin. So richtig, richtig modern fand ich ihn aber auch nicht. Das Holz war gut eingebunden, die Frucht zwar reif, aber nicht überreif und sehr knackig, gestylt wirkte der Wein überhaupt nicht. Nur jung. Wir diskutierten etwas länger am Tisch darüber, ob der 2005er sich wohl so gut wie der 1995er entwickeln wird (oder sogar besser?). Ich bin der Meinung, dass das der Fall sein wird. Aber wirklich wissen wird man es frühestens in 10 Jahren, denn so lange dürfte dieser Wein bis zur richtig schönen Trinkreife benötigen.

In jedem Fall erscheint mir die d'Armaihac Stilistik über die drei probierten Jahrgänge hinweg (1995, 2001, 2005) sehr stringent und auch ihrer Herkunft verpflichtet. Bei vernünftigen Preisen werde ich mir von diesem Gut vielleicht auch mal ein paar Flaschen in den Keller legen.

Dann hatten wir drei Weine:

1997 Château Léoville Las Cases
1998 Château Langoa Barton
1998 Château Léoville-Poyferré


Ich weiß gar nicht so genau, welcher der drei Weine der "klassische" und welcher der "moderne" Vertreter sein sollte. Langoa Barton und Poyferré, meine ich, seien jedenfalls in den 90er Jahren eher klassisch ausgerichtet gewesen. Michel Rolland hatte Poyferré seinerzeit noch nicht engagiert. Bei Las Cases bin ich mir nie so richtig sicher. Manche sagen, Las Cases sei einer der schlimmsten Modernisten im ganzen Bordelais, andere halten das Gut für eher klassisch. Ich vermute, dass der Las Cases hier der moderne Vertreter sein sollte. Jedenfalls schmeckte er so. 97 war kein großes Jahr, bei Las Cases wollte man evtl. mehr rausholen als drin war. Der Wein wirkte international, etwas eindimensional und auch ein wenig "getrimmt". Ich fand ihn trotzdem noch etwas besser als einige andere am Tisch.

Der Las Cases hatte es auch schwer, denn mit dem Langoa und dem Poyferré hatten wir zwei weitere Traumweine in den Gläsern. Der Poyferré lud wirklich zum Träumen ein, ich behielt ihn mir ziemlich lange im Glas, weil ich diesen wunderschönen Wein gar nicht zu Ende trinken wollte. Pure Schönheit, so lässt sich der Wein wohl am besten beschreiben. Perfekt balanciert, samtig, würzig, nuanciert, der hatte - wie auch schon der 85er Poyferré - nahezu alles, was ich mir von einem schönen Bordeaux erhoffe. Der Langoa war ziemlich anders, aber nur ganz wenig unter dem Poyferré im Niveau, etwas dunkelfruchtiger, vielleicht etwas jünger wirkend, knackiger, aber auch etwas weniger sinnlich. Auch beim Langoa blieben keine Wünsche offen.

Dann kamen noch zwei junge Weine:

2009 Château Saint Pierre und
2009 Château Le Bon Pasteur

Ich denke, dass hier der Le Bon Pasteur der Modernist und der Saint Pierre der Traditionalist sein sollte. Der Le Bon Pasteur war auf jeden Fall ziemlich modern mit reifer bis sehr reifer bis marmeladiger Frucht, schön viel Holz, einer eher milden Säure und einem samtigen Mundgefühl. Anfangs fand ich den noch ganz gut, mit mehr Luft baute er eher etwas ab. Der könnte sich aber noch ganz gut entwickeln. Den Saint Pierre fand ich absolut schrecklich - dünn und überextrahiert zur selben Zeit, total verholzt mit wirklich abweisendem, kalten Holz und diesen teerig-aschigen Rauchnoten im Abgang, gepaart mit Bitternoten, die einem Wein das Vergnügen nehmen.

Die Kritikernoten gehen hier extrem auseinander: Parker gibt Saint Pierre 98 Punkte und Le Bon Pasteur 94 Punkte, John Gilman gibt Saint Pierre 80-81+ Punkte und Le Bon Pasteur 60-79+ Punkte. Wer hat nun recht? Das lässt sich jedenfalls im derzeitigen Stadium nicht feststellen, beide Weine, vor allem der Saint Pierre, wirkten so zugenagelt wie ein Grocery Store in Detroit. Wie lange wird man hier warten müssen? Keine Ahnung, aber es wird eine lange Zeit sein. Bei Saint Pierre hatte ich leider nicht einmal Anhaltspunkte, wie der Wein wohl sein wird, wenn er aus der Tiefschlafphase erwacht. Da ging gestern Abend wirklich gar nichts. Die Weine werfen natürlich Fragen auf in Bezug auf ihren Reifeverlauf. Ich werde mir keinen der beiden kaufen (habe aber seinerzeit sehr viel Bordeaux 2009 gekauft), aber ich denke, man wird sich jedenfalls bei dem Saint Pierre schon darauf verlassen können, dass die Weine gut reifen werden, wenn auch unter Umständen langsam. Erst in 15 Jahren wird sich beantworten lassen, ob das ein klassischer Bordeaux ist oder nicht. Bis dahin wird sich natürlich das Koordinatensystem zwischen Klassik und Moderne natürlich auch noch einmal verschoben haben.

Zuguterletzt dann noch:

1973 Château Gazin

aus einem wenig berühmten Jahrgang. Ich fand den Wein nicht so übel, man merkte die wirklich sehr dünne Frucht, aber irgendwie wirkte der Wein durch diese akzentuierte Leichtigkeit durchaus charmant, wenn auch eher in einem akademischen Sinn als in einem Trinkfreude-Sinn.

Hier sind noch meine gesammelten Notizen (Ex Figeac): http://www.verkostungsnotizen.net/vkn_l ... he+starten
Beste Grüße, Stephan
Kle
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Re: "Traditioneller" und "Moderner" Bordeaux

Beitrag von Kle »

Hallo Stephan,

vielleicht machte es den Eindruck, aber eine genaue Gegenüberstellung "Modernist"- Traditionalist" war nicht der Hintergedanke, weil beides ja auch viel zu schwer zu definieren ist, sondern es ging eher um eine Beobachtungshypothese. Hinsichtlich dieser war ich aber besonders auf den Léoville-Flight gespannt. Anders als Du schreibst, war Rolland meines Wissens seit 94/95 bei Poyferré tätig und entsprechende stilistische Veränderungen ab dieser Zeit werden in der Weinliteratur gern hervorgehoben

Gruß, Kle
Das Schema der Wirklichkeit ist das Dasein in einer bestimmten Zeit
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