Hallo,
in der Novemberausgabe der
Revue du Vin de France ist ein Artikel über die Blindverkostung von Weinen aus St. Emilion aus den Jahrgängen 2011 und 2014. Aufhänger ist, ob sich die Hierarchie, die sich aus dem Classement von St. Emilion ergibt, auch in der
geschmacklichen Wertschätzung wiederfindet.
Das Argument, warum gerade diese beiden Jahrgänge ,ist, dass es sich um Jahrgänge handelt, die einen erheblichen agronomischen und oenologischen Aufwand erfordert haben und sich die Hierarchie dabei stärker zeigt.
Ich fand den Artikel, so weit ich folgen konnte, ganz unterhaltsam. Auch wenn er keine Antworten liefert, er schneidet den Aspekt Terroir an und stellt die Frage, inwieweit das subjektive Verkostungsvergnüngen entlang der Hierarchie bewertet werden kann, oder ob eher die Stilfrage im Vordergrund stehen sollte.
Ein Wein, der deutlich über seiner hierarchischen Stellung abgeschnitten hat, ist Chateau Berliquet - Grand Cru Classé 2011:
Intense, mentholé, très bel équilibre entre un fruit lerge et une palette aromatique profonde, épicée, terrienne. Un douceur rare de la chair en 2011, encore beaucoup de jeunesse et de potentiel. Un envergure inattendue pour Berliquet, un cru discret mais très bien situé. 95+
Dieses Urteil unterscheidet sich deutlich von den Einschätzungen
en-primeur, die RVF hat dem Wein damals 15.5 Pkt zugestanden, was in der neuen Arithmetik 91 wären. Auch Parker war nach der Füllung wenig angetan:
Robert Parker, Flaschenbewertung (Mai 2014):
"This elegant 2011 offers notes of sweet currants, cherries, spice box and earth along with medium body and a soft, round style. The wine narrows out in the finish. Consume it over the next 5-6 years."
85/100 Punkte - Trinkreife: 2014 - 2020
Robert Parker, Fassbewertung (2012):
This stunning success from Berliquet is unquestionably a sleeper of the vintage. Made from 75% Merlot, 22% Cabernet Franc and 3% Cabernet Sauvignon, this wine is looked after by the impressive duo of Nicolas Thienpont and Stephane Derenoncourt. The dense blue/purple-colored 2011 offers a big, sweet kiss of blackberries, black cherries, licorice and crushed chalk. It possesses plenty of minerality as well as impressively concentrated fruit and a nicely extracted (but not over-extracted) personality. It will provide plenty of enjoyment for 15 or more years.
90-93/100 Punkte - Trinkreife: 2012 –2027
Neben den professionellen Verkostern findet man auch in diesem Faden Einschätzungen
en-primeur:
vanvelsen hat geschrieben:Chateau Berliquet 2011: Überextrahiert, zu viel und zu harte Gerbstoffe für den Körper. Könnte austrocknen.. 15 vvPunkte (84)
harti hat geschrieben:[...]dann will ich meine Bewertungen gleich mal nachschieben.
[...]
Berliquet 86-88
[...]
Mich hat die unterschiedliche Wahrnehmung und die (potentielle) Veränderung vom grauen Entlein zum Schwan recht neugierig gemacht, besonders, weil es den Wein aktuell auch noch zu für 30€ zu kaufen gibt (ich hab ihn bei zwei Händlern gefunden).
Ich will keine der oben zitierten Verkostungen als falsch
entlarven. Das führt zu nichts und mitreden kann ich auch nicht. Ich habe keinen 2011er jung probiert, das war vor meiner Zeit, ich habe erst mit dem Jahrgang 2014 angefangen, mich ernsthaft für Bordeaux zu interessieren. Deshalb kann ich auch nur das wiedergeben, was man zu dem Jahrgang geschrieben findet. Recht informativ finde ich immer die Zusammenfassung der Vergetationsperiode des
Bordeaux Institute of Vineyard and Wine Science [Link]. Sehr warmer Spätwinter und warmes Frühjahr, rekordverdächtig früher Austrieb, extreme relative Hitze bis zum Juli. Danach ein eher kühler und wolkenreicher Juli und August und erst im September wieder sommerlich. Das führte zu kleinen Beeren, sehr vielen Gerbstoffen und einer inhomogenen Reife. Die Aromen häufig hitzegeprägt (getrocknete Kräuter, würzig, die Frucht teilweise eingekocht oder kandiert), verschlossen mit trocknenden und strengen Tanninen (mal ganz verkürz dargestellt).
Chateau Berliquet - Saint Émilion - Grand Cru Classé 2011:
Mir hat der wirklich gut gefallen, wirkt noch sehr jung. Insgesamt die Aromen hochwertig wirkend. Eine schöne Frucht, klar, kühl, dazu die würzig-erdigen Komponenten und sehr dezentes Fass. Für mich assoziert sich das zu einer gewissen Ernshaftigkeit bzw. Seriösität im Gesamteindruck. Das ist ein Wein, der einen zum langsamen Genießen und Entdecken einlädt, vor meinem geistigen Auge in einem Zustand der tiefen Entspannung im Ohrensessel in der Bibliothek.
Seit 2017 gehört Chateau Berliquet der Familie Wertheimer, den Besitzern des Modekonzerns Chanel. Neben Berliquet besitzen sie auch Chateau Canon und Rauzan-Segla. Vorher hat Patrick de Lesquen das Chateau Berliquet besessen und von 2008 an, bis zum Verkauf, waren Nicolas Thienpont (Beausejour HDL, Pavie Macquin, Larcisse Ducasse, und ehemals Bellevue) und Stéphane Derenoncourt für die Weinbereitung verantwortlich.
Die Mehrheit der Weine unter Beteiligung von Stéphane Derenoncourt, die ich getrunken habe, habe ich als sehr geschliffen, mit sehr samtigen Gerbstoffen empfunden, auch etwas technisch empfunden, aber sie besitzen auch eine sehr hohe Qualität. Eher helle Aromen (z.B.Vanille, Karamell, Schokolade) sind bei mit nicht so edel assoziert. In der Kombination mit einem geschliffenen Wein wird mir das dann schnell etwas banal oder vulgär, besonders wenn die Aromen nicht eine ausreichende Qualität im Ausdruck besitzen.
Ich finde, in diesem Fall passt es aber sehr schön. Für mich erhalten die eher herben, ernsteren, edel-aristokratisch assoziierten Aromen (all das würzig, rauchig, erdige) mit ihrer qualitativen Hochwertigkeit ein passendes Gesamtbild. Als der Wein nach dem Öffnen immer sanfter wurde, habe ich mich gefragt, ob er sich in eine recht zugängliche, gastronomische Richtung entwickelt. Ich habe den Wein heute noch mal nachverkostet, das Gegenteil ist passiert. Insgesamt verschlossen, die reichlich vorhanden Gerbstoffe haben an Präsenz gewonnen, adstringierend und harsch. Ich finde der Wein ist zur Zeit schön zu genießen, ich hatte den Wein vorher 2h leicht belüftet, nach 4, 5 Stunden war er am expressivsten. Einmal offen sollte man aber nicht zu lange warten.
In der Gesamtverkostung der RVF kommt 2011 übrigens etwas besser weg. Die absoluten Favoriten kommen vom Saint-Émilion Kalksteinplateau (Plateau Historique et côte ouest; Ausone 98, Beausejour HDL 98) und dem Plateau Argilo-Siliceux occidental (Figeac 98); alles 2011er. Bellevue und Grand Corbin Despagne aus 2011 mit jeweils 95 Pkt sind weitere Ausreißer der Hierarchie nach oben.
Grüße, Josef