Rainer Schönfeld aus Facebook:
Weil auf Basis einer WHO-Mitteilung unter einem privaten FB-Account geschrieben wurde, dass bereits geringste Mengen von Alkohol gesundheitsschädlich oder krebserregend seien, habe ich mir die Mühe gemacht, diese Aussage richtigzustellen. Und weil es in dieser Gruppe um Wein geht, teile ich meinen Text auch hier.
Obwohl es in einigen Medien immer wieder behauptet wird, ist es wissenschaftlich NICHT belegt, dass schon der Konsum geringer Mengen Alkohols gesundheitlich schädlich ist. Auch die WHO-Meldung, auf die sich diese Aussagen beziehen, und die übrigens keine wissenschaftliche Veröffentlichung ist, behauptet das nicht. Vielmehr sagt die WHO, dass der Nachweis einer Schwelle, unter der Alkoholkonsum unschädlich ist, wissenschaftlich nicht möglich ist. Der Unterschied zwischen diesen Aussagen ist ungefähr (aber nicht exakt) so wie der Unterschied zwischen den Aussagen, dass die Nichtexistenz Gottes nicht wissenschaftlich nachweisbar ist, und der, dass es Gott gibt, weil seine Nichtexistenz nicht nachweisbar ist.
Ich muss jetzt etwas ausholen. Für die Beurteilung von Messwerten ist die statistische Signifikanz ein wesentliches Kriterium. Diese gibt im Prinzip an, wie wahrscheinlich es ist, dass ein Ergebnis auf Zufall basiert. Teilchenphysiker und Mediziner schlagen sich sehr viel mit statistischer Signifikanzanalyse herum. Teilchenphysiker, weil sie versuchen, winzig, winzig kleine Effekte in einem Meer von Rauschen zu messen, und Mediziner, weil sie mit winzig, winzig kleinen Kohortengrößen in einem Meer von Rauschen etwas finden wollen. Ein Chemiker arbeitet mit 10 hoch 20 Individuen - das sind 10 Milliarden mal 10 Milliarden. Ein Mediziner kann eine Studie vielleicht mit 1.000, in seltenen Fällen mit 10.000 Individuen durchführen. Das ist deshalb so relevant, weil die Gesamtzählrate (also die Anzahl der beobachteten Individuen) unmittelbar die Varianz oder Messunsicherheit beeinflusst. Als breiten Daumenwert kann man nach Ruiz und Howerton aus der Gesamtzählrate die Varianz abschätzen, ohne eine detaillierte Varianzanalyse mit Bestimmung der Dispersionsparameter durchzuführen.
Nun gibt es neben Einzelstudien bzw. Einzelexperimenten in der Wissenschaft auch Metastudien, bei denen die Ergebnisse vieler Einzelstudien in einen Topf geworfen und analysiert werden. Deren größter Vorteil ist, dass sie auf sehr viel größere Gesamtzählraten kommen als eine Einzelstudie.
In einer wissenschaftlichen medizinischen Fachzeitschrift wurde eine sehr umfangreiche Metastudie zur Schädlichkeit des Alkoholkonsums veröffentlich.* Weil sie sehr viele Einzelstudien einbezog, kommt sie auf eine für medizinische Studien beeindruckende Gesamtzählrate mit 121.029 Datenpunkten. Damit liegt nach Ruiz und Howerton die Standardabweichung bei größer als 0,3%. (Sie kann beliebig größer, aber nicht kleiner sein.) Über den Daumen und ganz grob kann man sagen, dass jede Abweichung vom Durchschnitt unterhalb von 0,3% Rauschen ist.
Schaut man sich jetzt die Ergebnisse dieser Studie an, ergibt sich das folgende Bild: Von 100.000 Menschen erkranken durch 1 Glas Wein am Tag 4 Menschen mehr als weitgehend Alkoholfreie. Das sind 0,004%. Bei fünf Gläsern (also rund einer Flasche Wein) am Tag sind es 338 zusätzliche Erkrankungen, also 0,3%. Die korrekte Schlussfolgerung ist: Bis zu einer täglichen Flasche Wein ist ein erhöhtes Krankheitsrisiko wissenschaftlich nicht nachweisbar. Das heißt nicht, dass es kein erhöhtes Risiko gibt, es ist nur nicht messbar. Man kann daraus nicht den Schluss ziehen, dass ein Glas Wein am Tag nicht zu einem Gesundheitsrisiko führt. Man weiß es schlichtweg nicht!
Nun will ich weder Alkohol verharmlosen, noch will ich zum Alkoholkonsum verführen. Tatsache ist, dass Ethanol beim Menschen krebserregend ist. Der regelmäßige Konsum von größeren Mengen Alkohols erhöht eindeutig und statistisch signifikant das Risiko, an Krebs zu erkranken. Daran gibt es keine Zweifel. Man weiß aber nicht, unterhalb welcher Menge Alkohol nicht krebserregend ist. Aus der Tatsache, dass es aus statistischen Gründen nicht möglich ist, einen Schwellenwert zu ermitteln, unter dem Alkohol überhaupt nicht gesundheitsgefährdend ist, kann man aber nicht ableiten, dass Alkohol schon in geringsten Mengen gesundheitsgefährdend (z.B. krebserregend) ist.
Hinzu kommt, dass Alkohol in vielen Lebensmitteln natürlich vorkommt, weil Hefen ubiquitär sind. Brot enthält 0,1 bis 0,3% Alkohol, Sauerkraut, Bananen, Apfel- und Orangensaft enthalten bis 0,5% Alkohol.
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https://www.thelancet.com/article/S0140 ... 2/fulltext