Bordeaux 2022

Medoc und seine Appellationen, Bourg und Umgebung, Fronsac, Pomerol, Saint Emilion und Umgebung, Entre Deux Mers, Graves und Pessac-Leognan, Sauternes und Co.
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UlliB
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Re: Bordeaux 2022

Beitrag von UlliB »

pessac-léognan hat geschrieben: Parker mag zu seiner Zeit in der Tat mit der Einschätzung des Zukunftspotenzials überdurchschnittlich oft recht gehabt haben. Aber eines ist klar: Auch und gerade Parker hatte sein "Weltbild" bzw. sein Bild vom Bordeaux, wie er sein sollte. Statt "Weltbild" darf man wohl ganz einfach und mit Fug von "Geschmack" reden.
Genau das dachte ich auch, als ich das Posting von Herrn Hilse gelesen habe. Von Parker zu behaupten, dass dieser quasi "objektiv" verkostet habe, während Kelley ein "egoistischer Verkoster" sei, ist geradezu ein Treppenwitz. Bei kaum einem aktuell tätigen Verkoster sind die stilistischen Präferenzen und Abneigungen derart klar zu erkennen, wie es bei Parker zu seiner aktiven Zeit der Fall war. Außer eben bei Kelley ;)

Es entbehrt dabei nicht einer gewissen Ironie, dass Kelley mit seinen Präferenzen eine fast schon diametrale Gegenposition zu Parker einnimmt, obwohl er ausgerechnet für das von Parker gegründete Medium tätig ist.
Parker hatte mit seinem Geschmack eine enorme (Preis-)Gestaltungsmacht in Bordeaux. Wenn Parker 100 Punkte gab, konnten sich Preise von einem Jahr aufs nächste auch mal vervierfachen.
Und weil das so war, konnte Parker damals Bordeaux seinen Stempel aufdrücken. Nicht umsonst wird bis heute von "parkerisierten" Weinen geredet, und tatsächlich hat er sehr viele Erzeuger dazu gebracht, Weine in seinem Sinne zu erzeugen. Parkers enorme Verdienste um Bordeaux kann niemand bestreiten, sein ebenso enormer Einfluss auf den Weinstil war aber nicht nur positiv.

Keiner der heute aktiven Verkoster hat eine derartige Gestaltungsmacht, wie Parker sie hatte. Und das ist gut so. Statt eine "disparate, babylonische Sprachverwirrung" zu beklagen, sollte man sich eher darüber freuen, dass es nicht nur eine Einheitsmeinung gibt, sondern erkennbare stilistische Präferenzen. Welcher Meinung man nun anhängt, muss jeder für sich ermitteln.

Gruß
Ulli
amateur des vins
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Re: Bordeaux 2022

Beitrag von amateur des vins »

UlliB hat geschrieben:Statt eine "disparate, babylonische Sprachverwirrung" zu beklagen, sollte man sich eher darüber freuen, dass es nicht nur eine Einheitsmeinung gibt, sondern erkennbare stilistische Präferenzen.
+1
Besten Gruß, Karsten
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ledexter
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Re: Bordeaux 2022

Beitrag von ledexter »

pessac-léognan hat geschrieben:Aber: Fassmuster bleibt Fassmuster und wie die Weine von 2018 oder 2020 oder 2022, wo hochtechnologische Weinbereitung jedem Jahr und seinen Unbilden ein Wunderwerk abtrotzt, immer aufs Neue "best ever", in 10 oder gar 20 Jahren sein werden, bleibt gerade deshalb mehr denn je Spekulation: eine Wette auf die Zukunft. Und als Trost für alle 60+-Schreibenden (mit oder ohne Enkel): Niemand weiß wirklich (und selbst Parker wüsste es nicht), ob man den Montrose oder gar den LCHB 2022 nicht besser nach der Arrivage (hoffentlich mit Genuss) wegsöffe anstatt ihn, weil doch gerade Montrose immer so langlebig war, im Keller zu versenken und in 20/30 Jahren selber noch aus der Schnabeltasse einen peniblen Versuch zu wagen oder den Enkelinnen und Enkeln, so sie denn dann in ferner Zukunft nicht von anderen Sorgen geplagt werden, teuer erkaufte Leichen zu hinterlassen. Manch einer der "Parker"-Weine aus 2009 jedenfalls scheint eher ungut sich zu entwickeln und was die moderne Weintechnologie der 20er wirklich ausrichtet, steht in den Sternen.
https://m.youtube.com/watch?v=O_vEr7oqRQ0

Interessanterweise stellt Galloni an Neal Martin genau diese Frage, wie werden sich die 2022er entwickeln und wie langlebig werden sie sein?

Neal Martin ist sich ganz sicher, dass die 2022er sehr, sehr alt werden. Er ist sich auch sicher, dass man die Weine aus 2022 nicht jung trinken sollte. Er wird gefragt, welcher Wein aus 2022 früher zugänglich ist, und ihm fällt keiner ein, er antwortet, dass die 2019er viel charmanter sind in ihrer Frühphase und man eher diese trinken solle.
pessac-léognan
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Re: Bordeaux 2022

Beitrag von pessac-léognan »

amateur des vins hat geschrieben:
UlliB hat geschrieben:Statt eine "disparate, babylonische Sprachverwirrung" zu beklagen, sollte man sich eher darüber freuen, dass es nicht nur eine Einheitsmeinung gibt, sondern erkennbare stilistische Präferenzen.
+1
Wohl verstanden: Ich beklage sie nicht (im Gegenteil), sondern paraphrasiere und ironisiere nur Herrn Hilse und seine Weinbewerterschelte... ;)
amateur des vins
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Re: Bordeaux 2022

Beitrag von amateur des vins »

Eher hast Du mich nicht verstanden. Zumal ich Ulli zitierte, nicht Dich.

Wir sind uns alle einig, scheint mir.
Besten Gruß, Karsten
pessac-léognan
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Re: Bordeaux 2022

Beitrag von pessac-léognan »

ledexter hat geschrieben: Interessanterweise stellt Galloni an Neal Martin genau diese Frage, wie werden sich die 2022er entwickeln und wie langlebig werden sie sein?
Neal Martin ist sich ganz sicher, dass die 2022er sehr, sehr alt werden. Er ist sich auch sicher, dass man die Weine aus 2022 nicht jung trinken sollte. Er wird gefragt, welcher Wein aus 2022 früher zugänglich ist, und ihm fällt keiner ein, er antwortet, dass die 2019er viel charmanter sind in ihrer Frühphase und man eher diese trinken solle.
So "charmant" habe ich nun bei Weitem nicht alle probierten 19er in ihrer Fruchtphase gefunden, vielmehr einiges überwältigend fruchtig und somit fruchtphasemäßig genial (etwa Durfort-Vivens), massiv-genial (HBL, Capbern, Feytit-Clinet)[Frage: Wie wird das?] oder etwas unbestimmt (und weniger zugänglich als 2018) oder schlicht verholzt (Ferrière, Malescot) oder bereits früh mit (vermutlich) beginnendem Verschluss (DdC). Giscours und Lagrange waren appellationstypisch groß oder vielversprechend, aber nicht charmant.
Im weiteren Sinne "charmant" fand ich eigentlich nur Mazeyres (und auch erst nach ein paar Tagen in der geöffneten Flasche). Und bei vielen bin ich nun wohl einfach zu spät für die Fruchtphase (etwa Gaffelière, Larcis-D, Troplong, Clinet, LP, LB, SHL, Lynch-B, Batailley, Montrose, RS oder BC). Aber zugegeben: Mit NM kann ich es natürlich nicht aufnehmen, was die Zahl verkosteter Weine betrifft.
Gruß
Jean
Zuletzt geändert von pessac-léognan am Sa 17. Jun 2023, 12:22, insgesamt 2-mal geändert.
pessac-léognan
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Re: Bordeaux 2022

Beitrag von pessac-léognan »

amateur des vins hat geschrieben:Eher hast Du mich nicht verstanden. Zumal ich Ulli zitierte, nicht Dich.
Klar, aber Ulli zitiert meine Hilse-Paraphrase!
Aber was soll's.
Matthias Hilse
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Re: Bordeaux 2022

Beitrag von Matthias Hilse »

Mit einem gewissen Amüsement verfolge ich die "Diskussion" um einen Text, der ja nicht für den hiesigen Leserkreis bestimmt ist. Ich möchte mir den Hinweis erlauben, dass in der Textpassage "...Denn in 2009 gab es unter rautengleichen Bedingungen eine alternativlose Meinung. So war es leicht, dass einem Wein Perfektion zugesprochen wurde - schließlich war da niemand, der hätte widersprechen können." nirgends etwas von "Objetivität" zu lesen ist, gerade der Hinweis auf die "merkelsche Alternativlosigkeit" ist als Fährte gedacht, wie es intendiert ist. Parker hat natürlich nicht objektiv verkostet, es war halt nur niemand da, der ihm den Rang streitig gemacht hat. So konnte er seine MEINUNG monopolisieren.
Auch der Einwand, "Statt eine "disparate, babylonische Sprachverwirrung" zu beklagen..." ist für mich irritierend, denn wo wird denn bei "In 2022 gilt es, ein babylonisches Sprachengewurschtel auseinanderzuinterpretieren, um die völlig disparaten Ansichten über die gleiche Sache einigermaßen einer Hermeneutik zuzuführen." eine Klage angestimmt?
Es gibt jetzt ziemlich viele Meinungen, die muss man aber entschlüsseln, weil einige Verkoster sehr linear an diesen ephemeren Mustern entlang beschreiben, andere eine Metakritik der Gestehungsprozesse des Weins in die Beschreibung hineinarbeiten und wieder andere mehr auf die Struktur des Weins eingehen, ohne dabei das Vergängliche zu sehr in den Blick zu nehmen. Diese Vielfalt ist natürlich zu begrüßen, was denn sonst?

Herzliche Grüße,
Matthias Hilse
diogenes
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Re: Bordeaux 2022

Beitrag von diogenes »

Matthias Hilse hat geschrieben:Mit einem gewissen Amüsement verfolge ich die "Diskussion" um einen Text, der ja nicht für den hiesigen Leserkreis bestimmt ist. Ich möchte mir den Hinweis erlauben, dass in der Textpassage "...Denn in 2009 gab es unter rautengleichen Bedingungen eine alternativlose Meinung. So war es leicht, dass einem Wein Perfektion zugesprochen wurde - schließlich war da niemand, der hätte widersprechen können." nirgends etwas von "Objetivität" zu lesen ist, gerade der Hinweis auf die "merkelsche Alternativlosigkeit" ist als Fährte gedacht, wie es intendiert ist. Parker hat natürlich nicht objektiv verkostet, es war halt nur niemand da, der ihm den Rang streitig gemacht hat. So konnte er seine MEINUNG monopolisieren.
Auch der Einwand, "Statt eine "disparate, babylonische Sprachverwirrung" zu beklagen..." ist für mich irritierend, denn wo wird denn bei "In 2022 gilt es, ein babylonisches Sprachengewurschtel auseinanderzuinterpretieren, um die völlig disparaten Ansichten über die gleiche Sache einigermaßen einer Hermeneutik zuzuführen." eine Klage angestimmt?
Es gibt jetzt ziemlich viele Meinungen, die muss man aber entschlüsseln, weil einige Verkoster sehr linear an diesen ephemeren Mustern entlang beschreiben, andere eine Metakritik der Gestehungsprozesse des Weins in die Beschreibung hineinarbeiten und wieder andere mehr auf die Struktur des Weins eingehen, ohne dabei das Vergängliche zu sehr in den Blick zu nehmen. Diese Vielfalt ist natürlich zu begrüßen, was denn sonst?












Herzliche Grüße,
Matthias Hilse

Mich amüsiert dabei besonders, wie man aufgrund der eigenen Unzulänglichkeit einen Text zu verstehen, in eine Offensive geht, die diese Unzulänglichkeit auch noch öffentlich unter Beweis stellt.
carpe vinum!
duhart09
Beiträge: 574
Registriert: So 11. Nov 2012, 11:37

Re: Bordeaux 2022

Beitrag von duhart09 »

Ich finde die Vielfalt der Stimmen an sich natürlich im Grundsatz absolut gut. Schwieriger ist es eben, sich seine eigenen Heuristiken zu bauen, nachdem zwei einflußreiche Kritiker wie Parker und Gabriel (letzterer zumindest für Subs-Weine) seit einigen Jahren nicht mehr schreiben. Mit deren Kritiken bin ich Bordeaux-sozialisiert worden vor gut zwo Jahrzehnten und bin dann mit der Faustregel gut gefahren, auf Parkers Bewertungen und auch Prognosen zu setzen, die mir wertvoll erschienen, aber die Gabriel'schen Beschreibungen und Geschmacksassoziationen daneben zu setzen. Denn diese habe ich meist als differenzierter und treffender empfunden. Heute sehe ich eben den weiten Chor der sich z.T. (natürlich) auch widersprechenden Kritikermeinungen und ohne wirklich hohe Konfidenz in ein oder zweie davon zu haben, ist es dann eben schwieriger. Bleibt die Orientierung an Punkten sowie das Herauslesen von Gemeinsamkeiten in der Beschreibung der Weinstilistik. Und der Vorteil, eben über all' die Jahre auch schon meine eigenen (jg.unabhängigen) Favoriten gefunden zu haben.

Im übrigen freue ich mich von Zeit zu Zeit auch sehr über die Hilse'schen Wein"feuilletons" (und ich bin sicher über manche Wortakrobatik und Zuspitzung darin lacht er selber auch hin und wieder). Ein schöner Kontrapunkt im Zeitalter von Twitter und Messenger-Deutsch! Wenn's stört, der soll es halt überlesen!

Danke auch für die Rückmeldungen zu meiner Frage, was Ihr 2022 subst. Bei mir sind's fast ausschließlich wieder mal Demis geworden und hier doch einige alte Favoriten mit Montrose, Batailley, Duhart, Pontet Canet, HBL, La Lagune, Feytit Clinet und nach all' der Begeisterung hier probeweise auch mal Mangot. Bei Lynch Bages, einem meiner absoluten Lieblinge, zögere ich dagegen. Die Bewertungen scheinen mir relativ zum geforderten Preis doch eher überschaubar gut und dann muss man wohl nach der Fruchtphase auch noch zwanzig Jährchen warten, was mich als Ü50 dann doch etwas abschreckt (okay, bei Montrose hat's mich nicht gehindert).

Gruß
Uli
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