Um diesen Thread noch einmal aus der Versenkung zu holen – ich wollte zum Thema ja noch etwas schreiben (man muss hier wirklich aufpassen, nicht allzu viele lose Enden zu hinterlassen

).
Im Nachfolgenden beziehe ich mich auf die historischen Klassifizierungskarten der Mittelmosel, weil ich mich hier schlicht und ergreifend am besten auskenne und die konkrete Situation vor Ort beurteilen kann. Meine Schlussfolgerungen gelten insofern nicht notwendigerweise für andere Gebiete.
Eine Lage an der Mittelmosel, die in die höchste Qualitätsstufe eingruppiert wurde, erfüllt typischerweise folgende Eigenschaften:
- sie liegt im Steilhang (was an der Mosel im Gegensatz zu anderen Gegenden
wirklich steil bedeutet);
- dort in der unteren Hanghälfte, meistens sogar im unteren Hangdrittel;
- und hat eine möglichst reine Südexposition ohne relevante Beschattung durch den Gegenhang oder Seitenhänge.
Letzteres lässt sich aus Lagenkarten nicht immer leicht entnehmen, da die Hangneigung nicht immer rechtwinklig zum Flusslauf verläuft - man muss die Situation vor Ort in Augenschein nehmen. Ein prominentes Beispiel kann man im Bereich von Wintrich sehen: hier verläuft der Fluss genau von Süd nach Nord; die flächenmäßig größte Wintricher Lage „Großer Herrgott“ hat eine fast reine Westexposition (und ist als mäßig eingestuft). Am Südende drehen die Weinberge jedoch in Richtung Osten in ein kleines Seitental ein und die Reben kommen dadurch in eine Südexposition: das ist der Wintricher Ohligsberg; in den historischen Lagenkarten eine Lage der obersten Qualitätsstufe und auch vom VDP als „Erste Lage“ eingestuft.
Mir den oben genannten Kriterien kann man das Spiel übrigens auch umdrehen: eine Lage, die alle genannten Kriterien erfüllt (und das sind wegen des sich hin-und herwindenden Flusses gar nicht so viele), ist so gut wie immer auch hoch klassifiziert. Wer die Mosel längsfährt und beim Gekurve durch die Schleifen die Orientierung für die Himmelrichtung nicht verliert (an trüben Tagen ist da ein Kompass durchaus hilfreich), weiß, wo die „Großen Lagen“ sind, bevor er eine Lagenkarte bemüht.
Fazit: entscheidendes Kriterium für die historische Klassifizierung war ganz klar die
Exposition, und offensichtlich nicht die durchaus heterogene Geologie. Und dafür gibt es einen ganz einfachen Grund: die Lagen, die die genannten Kriterien erfüllen, sind die wärmsten (und damit auch die am frühesten reifen); ein unschätzbarer Vorteil in einem Weinbaugebiet, in dem bis vor gut 20 Jahren die Winzer in den meisten Jahrgängen Schwierigkeiten hatten, ihre Trauben auch nur annähernd reif zu bekommen.
Was bedeutet diese Klassifikation nun für die heutige Situation? In knapp reifen Jahrgängen wie 2010 oder auch 2008 wahrscheinlich immer noch einiges. In hochreifen Jahrgängen wie 2005, 2007 oder 2009 aber sicherlich weniger oder vielleicht auch gar nichts; sie könnte sich dann sogar in ihr Gegenteil verkehren. Abgesehen vom Klimawandel hat sich die Situation im Weinbau seit der Klassifikation aber auch sonst grundlegend verändert: dank neuer Möglichkeiten der Vitikultur kann man heute die Trauben auch in problematischen Jahrgängen wesentlich länger hängen lassen als früher, was den Reifevorteil der hoch klassifizierten Lagen zumindest teilweise kompensiert.
Wenn man heute
unvoreingenommen klassifizieren würde, sähen die Ergebnisse vermutlich anders aus als vor hundert Jahren – hier könnten völlig andere Aspekte wie zum Beispiel die Wasserhaltung ganz entscheidend werden. Nur wird das nicht geschehen, denn eine Lagenklassifikation hat heute und hatte auch schon früher den Charakter einer
„self fulfilling prophecy“ – da der Winzer für den Wein aus seinen hochrenommierten Lagen mehr mediale Aufmerksamkeit und auch mehr Geld bekommt, widmet er sich diesen Lagen mit mehr Sorgfalt und Aufwand als den für schlechter gehaltenen Lagen. Und was ist dann das Resultat?
Der VDP geht mit seiner Lagenklassifikation gleich noch einen Schritt weiter, indem er nur noch die Verwendung der Namen klassifizierter Lagen erlauben möchte und die anderen schlicht vom Etikett verschwinden und im Orts- oder Gutswein aufgehen lassen möchte. Dieses Vorgehen zementiert die Lagenklassifikation (die der VDP übrigens in aller Regel 1:1 aus den historischen Vorlagen übernommen hat) dann auf Zeit und Ewigkeit – selbst wenn guter Riesling irgendwann nur noch auf Hängen mit Nordexposition wachsen sollte, weil wir ein südfranzösisches Klima bekommen haben, würde man die Klassifikation nicht mehr anrühren. Und insofern ist die vom VDP angestrebte Lagenklassifikation schlicht reaktionär (abgesehen von einigen ganz grundsätzlichen weiteren Einwänden gegen eine solche Klassifikation, die aber nicht hierhin gehören).
Gruß
Ulli