Mindestens 70 Millionen Bundesbürger mutieren zu Fußballexperten, selbst Oma hat mit der Lebensweisheit ihrer 87 Jahre eine dezidierte Expertenmeinung "Der Özil ist ja vollkommen überschätzt!" Die Jagd nach Panninibildchen nimmt teils skurrile Formen an.
Eine kleine Minderheit versucht der Erdrückung zu entgehen und versichert andauernd, sich für Fußball kein wenig zu interessieren. Das hat was von "Denken Sie nicht an einen rosa Elefanten!", denn auch sie müssen sich in dieser Zeit zwangsläufig mit dem Phänomen befassen oder sind ihm zumindest ausgesetzt.
Vielleicht würde temporäres Auswandern nach Grönland oder mitten in den tropischen Regenwald helfen? Damit würden die Fußballflüchtlinge mit den Fußballverrückten ein Schicksal teilen: Die Verpflegung mit Speis und Trank ist in dieser Zeit eher, nun ja, übersichtlich. Überall liegt der Geruch von mariniertem angekokelten Fleisch in der Luft, oder es gibt Schnittchen, oder Pizza vom Bringdienst, deren Qualität mit der Performance der Squadra Azzura schwankt.
Und Wein? Zu Fußball gehört Bier und wenn ich gerade dem sechsten Fehlpass zuschauen muss, kann ich mich nicht gleichzeitig in die Eleganz, Filigranität und das komplexe Aromenspiel eines Großen Gewächses oder die kraftvolle Tanninstruktur eines Zweiten Crus aus dem Bordelais versenken. OK, was Einfaches aus der Provence geht immer oder mein all time favorite.
Die Lösung aus diesem Dilemma ist, sich vor dem Ereignis noch mal ordentlich dem intensiven Genuss besonders delikater Speisen und großer Weine hinzugeben. Jetzt, wo man das alles noch richtig genießen kann, ohne sich über verlorene Spiele oder vorzeitiges Ausscheiden "seiner" Mannschaft zu ärgern. Obwohl man es ja hat kommen sehen. Die erwähnten 70 Millionen Bundesbürger aka Bundestrainer haben es grundsätzlich immer kommen sehen. Egal was.
Das haben wir uns zu Herzen genommen und uns letzte Woche ein umwerfend köstliches und ausgesuchtes Essen gegönnt und dazu einen entsprechend ausgesuchten Wein.
Dass es in Frankreich mit der glasweisen Begleitung zu Menüs nicht weit her ist, habe ich ja schon verschiedentlich thematisiert. Allerdings meinte gestern ein guter Freund, er komme auch langsam wieder davon ab, zu oft müsse man dabei ein Highlight mit drei Nieten erkaufen. Andererseits, ein einziger Wein zu fünf verschiedenen Gängen? Meistens passt dann irgendwas auch nicht.
Dass es durchaus passen kann, hab ich dann erlebt (ok, beim Dessert dann auch nicht mehr, aber das halte ich für eine verzeihliche Sünde, und den Käsegang haben wir sowieso ausfallen lassen) und wiederum festgestellt, dass ich ein Burgunderjungtrinker bin. Während ich beim Bordeaux durchaus die Charakteristik des gereiften Weins zu schätzen weiß, fahre ich beim Burgunder voll auf die Fruchtphase junger Weine ab.
Der nette Sommelier empahl zum Menü einen Pinot Noir, nicht zu kraftvoll, und wir wählten
2010 Gevrey-Chambertin 1er Cru Les Cazetièrs
Dupont-Tisserandot, Côtes de Nuits
der nach ein paar Minuten im Glas eine wunderbar zartfruchtige Nase entwickelte mit feinen Anklängen nach Himbeer, etwas Lakritz und Kräutern. Im Mund erwies er sich als leicht, aber nicht zu leicht, so dass er neben dem Essen nicht unterging, es aber auch nicht dominierte.
Frischte Beerenfrucht, Kirsche, Lebkuchengewürz, zarte Mineralnote, gut strukturiert bis zum eher mittellangen fein schwingenden Abgang. Ein perfekter Begleiter zum eleganten abwechslungsreichen Menü, der sowohl die fruchtigen Komponenten als auch die sehr interessante Sauce zum Schwein wunderbar abholte.
Ich gestehe, der Winzer/Abfüller sagt mir nichts und er wird wahrscheinlich nicht zu den Must-Haves aus dem Burgund gehören. (OK, Burgund ist jetzt auch nicht so sehr meine Baustelle wie Bordeaux, mag sein, dass ich gerade mitten im Fettnapf stehe.)
Übrigens, ernst gemeinter Vorschlag: Wer an einer Weinforum-WM-Tipprunde interessiert ist, Meldung hier im Thread, dann lege ich hier eine für uns an. Es geht natürlich nur um die Ehre und wahrscheinlich wird dann mal wieder der Beweis angetreten, dass bei sowas immer die gewinnen, die nach eigener Erklärung überhaupt keine Ahnung vom Fußball haben
