Es gibt auch schon eine erste "Rezension", nämlich von Weinblogger Dirk Würtz. Das Wort "Rezension" steht in Anführungszeichen, da die Besprechung des Weinguides für mich keine Rezension ist. Sie sucht und beschreibt das Positive, Kritik spart sie aus - nahezu vollständig. Ein Zitat hat mich besonders nachdenklich gestimmt:
Ich möchte jetzt gar nicht auf die Frage eingehen, was für einen Nutzen bzw. was für eine Glaubwürdigkeit ein Weinguide hat, den man bezahlen muss, wenn man darin vorkommen möchte. Vielmehr geht es mir um einen allgemeinen Trend, den ich meine, ganz deutlich festzustellen, seit sich das geschriebene Wort über Wein immer mehr ins www verlagert hat.Dirk Würtz hat geschrieben:Sehr angenehm ist die Tatsache, dass die Wein nicht nur bepunktet, sondern eben auch beschrieben werden. Was ebenfalls sofort auffällt: es fehlt der berüchtigte “Kritiker-Zeigefinger”. Alles wirkt eher positiv. Es werden Weine empfohlen und nicht kritisiert.
Diese Entwicklung hat für mich zwei Effekte: der klassische Weinjournalismus, bei dem jemand von den Lesern (ggf. mittelbar über eine Publikation, für die Leser bezahlen) dafür bezahlt wird, über Wein zu schreiben, gerät immer mehr unter Druck. Es fehlen die Einnahmequellen. Ein paar sehr wenige Journalisten wie Stuart Pigott, seine Ehefrau Ursula Heinzelmann oder Stefan Reinhardt werden von einer Zeitung dafür bezahlt (hoffe ich doch), dass sie darin über Wein schreiben. Hinzu kommen vor allem englische und US-amerikanische Weinkritiker mit Bezahlseiten wie Parker, Jancis Robinson, John Gilman, Stephen Tanzer, Allen Meadows, usw. Im Übrigen wird es nach meiner Wahrnehmung immer schwerer, als wirklich unabhängiger Autor vom Schreiben über Wein und ggf. verwandte Themen seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können.
Auf der anderen Seite gibt es die Blogszene, deren Flagschiff unstreitbar Captain Cork sein dürfte. Und dort fällt mir eines sehr stark auf: gerade die Blogs, die Weine beschreiben, die ihnen zur Verkostung (kostenfrei) zugeschickt werden, konzentrieren sich sehr häufig auf reine Empfehlungen. Gefällt ein Wein oder eine Serie von Weinen nicht, gibt es schlicht keinen Artikel darüber. Gefällt ein Wein oder eine Serie von Weinen, so gibt es einen Artikel, und zwar - das ist kein Wunder - eigentlich immer einen positiven. Auch wenn Captain Cork - so meine ich mich zu erinnern - das Motto ausgegeben hat, dass es nur Weinempfehlungen und keine Kritik gibt, finden sich doch in letzter Zeit (soweit ich es lese) hin und wieder auch kritische Gedanken, z.B. vor kurzem über das Weingut Keller. Daran zeigt sich: Captain Cork scheint eine Relevanz erreicht zu haben (und hat einen streitbaren, aber unstreibar mutigen Chef), die es der Seite jedenfalls ansatzweise erlaubt, auch mal kritische Gedanken zu äußern, ohne sich gleich den Ruf in der Szene kaputt zu machen.
Umso kritischer finde ich es, wenn im Sinne des allgemeinen Trends zum ausschließlich Positiven nunmehr auch ein Weinguide dafür gelobt wird, dass er ausschließlich im positiven Sinne Weine empfiehlt. Offenbar kommen alle Weine, die die Falstaff Jury unter 85 Punkten bewertet hat, im Falstaff Guide schlicht nicht vor.
Wie soll denn ein Konsument aus der Vielzahl von Weinen, die es gibt, wählen, welchen Wein er will, wenn er ausschließlich positive Empfehlungen liest? Wenn ich ins Geschäft gehe, will eine blaue Chino und frage die Verkäuferin, welche Hose sie mir für meinen Typ empfiehlt, und sie sagt "Die sind alle gut", hat mich das kein Stück weitergebracht. Hat nicht Weinkritik, die sich nicht nur so nennt, sondern auch Weinkritik sein will, die Aufgabe, auch dazu zu stehen, wenn sie einen Wein mal nicht so gelungen findet? Aus meiner Sicht ist diese Frage ganz eindeutig mit Ja zu beantworten. Eine Weinbeurteilung, in der weniger gelunge Weine schlicht verschwiegen werden und die ausschließlich die als gut beurteilten Weine empfiehlt, ist für mich - anders als für Dirk Würtz - nicht "frisch", sie ist hasenfüßig oder von kommerziellen Zwängen geprägt reiner Pragmatismus.
Ich als Konsument will nicht nur Empfehlungen. Ich erwarte eine kritische Auseinandersetzung mit der Materie, mit der sich ein Autor beschäftigt. Wenn zum Beispiel zwei meiner Lieblings-Musikautoren - Jan Wigger und Andreas Borcholte (Spiegel Online "Abgehört") - nur ihre Empfehlungen abgeben würden, nicht aber auch relevante Alben kritisieren würden, wäre ich extrem enttäuscht. Kritik will gelernt sein, sie ist ein viel schwereres Terrain als die reine Empfehlung. Aber wer kann schon etwas gegen faire Kritik sagen? Kritik, die sich Häme, Herablassung, Besserwisserei und Zynismus spart und sich auf die Sache konzentriert. Eine solche zu schreiben, ist eine Kunst. Eine Kunst, die sich die Vertreter der "Positive Only" Einstellung nicht zutrauen oder die sie schlicht zur Konfliktvermeidung umgehen?