Analysewerte des Jahrgangs 1857 in Deutschland

Was Sie schon immer über Wein wissen wollten, aber nie zu fragen wagten
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Charlie
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Re: Analysewerte des Jahrgangs 1857 in Deutschland

Beitrag von Charlie »

Was halten die Chemiker von der Qualität der Säure- und Zuckerbestimmungen? Könnte man sie mit heutigen Werten vergleichen?
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Gerald
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Re: Analysewerte des Jahrgangs 1857 in Deutschland

Beitrag von Gerald »

Hallo Charlie,

irgendwie habe ich im Text keine genauen Erklärungen zu den verwendeten Analysenverfahren gefunden, habe ich da etwas übersehen? Über die Säurebestimmung habe ich gar nichts gefunden (vermutlich Titration, aber bis zu welchem pH-Wert? Berechnet als Weinsäure?) und über die Zuckerbestimmung nur, dass sie mit "Desoxydation von schwefelsaurem Kupferoxyd" vorgenommen wurde. Also vermutlich mit der Fehling-Bestimmungsmethode, aber wie genau die Quantifizierung stattfindet, kann man auch nur raten.

Ich lese aber gerade, dass (zumindest in Ö) seit 2010 diese Methode nicht mehr offiziell zugelassen ist und der RZ als Summe von Glucose und Fructose (bestimmt über HPLC oder enzymatisch) berechnet werden muss.

Grüße,
Gerald
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UlliB
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Re: Analysewerte des Jahrgangs 1857 in Deutschland

Beitrag von UlliB »

Hallo Charlie,

die Bestimmung des Alkoholgehaltes wird mit ziemlicher Sicherheit über Destillation und nachfolgende Dichtebestimmung des Destillates über Pyknometrie erfolgt sein - eine über viele Jahrzehnte bis weit ins letzte Jahrhundert als Standard etablierte Methode, die zwar aufwendig ist, aber richtige und präzise Ergebnisse liefert.

Säuregehalt: mit Sicherheit klassische Säure-Base-Titration mit Farbindikator (Gerald: die exakte Lage des Äquivalenzpunktes ist für das Ergebnis nicht so sonderlich relevant, da sowohl die untersuchten Säuren als auch das Titrans [NaOH?] verhältnismäßig starke Säuren und Basen sind; der absolute Fehler ist bei Verwendung aller gängigen Indikatoren da sehr gering). Fraglich ist hier nur, ob die Säure als Weinsäure berechnet wird; man kann dies aber schon vermuten. Auch hier würde ich sagen, dass die Ergebnisse mit denen, die mit heutigen Methoden erhalten werden, vergleichbar sind.

Zucker: wie Gerald schon vermutet hat, per quantitativer Fehling-Reaktion - damals per Umkehrtitration bis zum Verschwinden der blauen Farbe von Cu2+. Das Verfahren ist allerdings bei den geringen gefundenen Zuckermengen ziemlich heikel, was der Autor ja auch zugibt. Seine Schlußfolgerung diesbezüglich ("zu unserem Zwecke ganz hinreichend") würde ich aber teilen; die Größenordnung stimmt sicher.

Minerailen: Asche, gravimetrisch. Macht man auch heute noch so, wenn man sich nicht für die einzelnen anorganischen Komponenten interessiert.

Alles in allem halte ich die Werte schon für vergleichbar zu dem, was man heute ermittelt. Übrigens sind die Werte bis auf die sehr hohen Alkoholwerte im Steinberger ja auch nicht unplausibel.

Gruß
Ulli
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Gerald
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Re: Analysewerte des Jahrgangs 1857 in Deutschland

Beitrag von Gerald »

Hallo Ulli,
die exakte Lage des Äquivalenzpunktes ist für das Ergebnis nicht so sonderlich relevant, da sowohl die untersuchten Säuren als auch das Titrans [NaOH?] verhältnismäßig starke Säuren und Basen sind; der absolute Fehler ist bei Verwendung aller gängigen Indikatoren da sehr gering
na ja, eigentlich ist Weinsäure meines Wissens doch eine eher schwache Säure (pKs1 = 2,98 und pKs2 = 4,34 laut Wikipedia). Und wenn die Titrationskurve in

http://www.chemiephysikskripte.de/poten ... #Weisswein

stimmt, macht es schon einen deutlichen Unterschied, welchen Indikator man verwendet (z.B. Bromthymolblau mit Umschlag im leicht sauren Bereich, Phenolphthalein in deutlich alkalischen), so 10-15% Abweichungen sind schon denkbar. Ist aber natürlich schon wesentlich weniger spektakulär als die unerwartet hohen Alkoholwerte ...

Grüße,
Gerald
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UlliB
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Re: Analysewerte des Jahrgangs 1857 in Deutschland

Beitrag von UlliB »

Gerald hat geschrieben:(z.B. Bromthymolblau mit Umschlag im leicht sauren Bereich, Phenolphthalein in deutlich alkalischen),
Gerald,

im Jahr 1857 gab es aber noch keine synthetischen Indikatoren... :o

Ich hätte korrekt sagen sollen: bei Verwendung aller damals gängigen Indikatoren. Ich würde wetten, dass Lackmus zum Einsatz kam, kann das aber nicht belegen. Ansonsten kämen nur noch ein paar andere Pflanzenfarbstoffe in Frage, z.B. Cyanidin. Die haben allesamt ihren Umschlagpunkt ziemlich nahe an pH7 und liegen somit schon einigermaßen "richtig".

Gruß
Ulli
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Gerald
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Re: Analysewerte des Jahrgangs 1857 in Deutschland

Beitrag von Gerald »

Oops, da hast du natürlich Recht. Ich lese gerade, dass Phenolphthalein erst 1871 entdeckt wurde (ich hätte das für viel früher angenommen). Zum Glück war die Weinsäure aber schon bekannt, sonst wäre die Angabe der Säurewerte als Weinsäure etwas schwierig geworden ;)

Grüße,
Gerald
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Charlie
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Re: Analysewerte des Jahrgangs 1857 in Deutschland

Beitrag von Charlie »

Und wie haben die Weine wohl geschmeckt? Ich würde nach allem was dort hier zu lesen ist und was wir sonst getrost annehmen können:

Nase: die meisten mit einer mehr oder weniger ausgeprägten oxidativen Note, denn zwischen Lese und dem Schutz durch CO2 konnte einiges an Luft an den Most gelangen - langsamer Transport, dabei wurde viel gequetscht, langsames Pressen, vielleicht auf warten bis man drankam and der Kelter, langsamaes loslegen der Gärung, Gärung und Ausbau im Fass. Viele scheinen auch nicht besonders gut geduftet zu haben.

Gaumen: sehr trocken, kräftig in der Säure, einige mit deutlichem Schmelz ("Schmalz"), viele deutlich nach Malo.

Mir scheint, ich habe in meiner frühen Jugend solche Weine getrunken. Die meisten waren astrengend.
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UlliB
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Re: Analysewerte des Jahrgangs 1857 in Deutschland

Beitrag von UlliB »

Auffällig ist der mehrfache Hinweis auf "Essig-Aether" (= Ethylacetat, eine Differenzierung zwischen Ether und Ester gab es damals noch nicht); sowohl im Text als auch in mehreren Bemerkungen zu einzelnen Weinen. Die zu Grunde liegende Essigbildung wird fälschlich mit einer unvollständigen Gärung in Verbindung gebracht; die wahre Ursache (Essigsäurebakterien + sauerstoffhaltiges Milieu) war noch unbekannt. Insofern darf man wohl auch sonst von allen möglichen Arten von mikrobieller Kontamination während der Weinbereitung ausgehen, und das Ergebnis dürfte für den heutigen, an Reintönigkeit gewohnten Geschmack vermutlich in den meisten Fällen schon arg gewöhnungsbedürftig gewesen sein.

Wo nach Auffassung des Autors damals die besten Weine herkamen, macht er ja sehr klar: aus dem Rheingau. Ich finde es schon sehr interessant, dass diese bis weit in die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts allgemein akzeptierte Auffassung schon derart alte Wurzeln hat.

Gruß
Ulli
kristof
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Re: Analysewerte des Jahrgangs 1857 in Deutschland

Beitrag von kristof »

Charlie hat geschrieben: Mir scheint, ich habe in meiner frühen Jugend solche Weine getrunken. Die meisten waren astrengend.
Ich habe mich immer schon gefragt, wie alt Du bist. Jetzt sehe ich klarer.
Viele Grüße,

Christoph
Sebastopol
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Re: Analysewerte des Jahrgangs 1857 in Deutschland

Beitrag von Sebastopol »

Da bin ich schlichtweg baff....das Naturhefen dermaßen hohe Alkoholausbeuten erreichen widerspricht meinem "Schulwissen" komplett. Mit 15%-16% bewegen wir uns ja schon an der Untergrenze zu den verstärkten Weinen.
Fast würde ich doch einen Rechen- oder Analysefehler vermuten, andererseits: beim Wein ist alles möglich. Z.B. habe ich gerade im letzten Herbst das spontane Angären eines TBA-Mostes von über 200 Grad Oe erlebt, was man auch eher unter "Marmelade gärt ja auch nicht" verbucht hätte.
Die niedrigen Säurewerte legen in der Tat einen BSA sehr nahe, im Verbund mit dem (für heutige Verhältnisse) sehr niedrigen Restzucker waren die Weine damals sicher recht schwierig. Aus meiner eigenen Erfahrung heraus kann ich jedoch sagen, das ähnlich bereitete Weine heute sehr interessant&großartig schmecken. Konkret etwa der 1900er und der 1911er, die sicher nicht wesentlich anders behandelt wurde als der 1857er. Dummerweise liegen da natürlich ein paar Jahre zwischen Bereitung und Verkostung, und es sind ja auch nur noch einige wenige Spitzenweine verfügbar. Aussagen über die Weine in den ersten Jahren oder die Qualität im Allgemeinen lassen sich da kaum treffen.
"A German wine label is one of the things life's too short for, a daunting testimony to that peculiar nation's love of detail and organization."
Kingsley Amis Everyday Drinking
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