Bordeaux 2022

Medoc und seine Appellationen, Bourg und Umgebung, Fronsac, Pomerol, Saint Emilion und Umgebung, Entre Deux Mers, Graves und Pessac-Leognan, Sauternes und Co.
Chrysostomus
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Re: Bordeaux 2022

Beitrag von Chrysostomus »

Auch von mir ein Bericht zu einer Arrivage-Verkostung vor wenigen Tagen, die mich relativ ratlos zurück gelassen hat, um ehrlich zu sein. Zusammenfassend kann ich für mich festhalten, dass sich der Spruch "Geschmäcker sind verschieden" wieder einmal voll bewahrheitet hat. Die Meinungen am Tisch gingen weit auseinander. Allgemein war es tendenziell so, dass Bordeaux-Neulinge begeistert waren, erfahrenere Bordeaux-Trinker die Sache sehr viel differenzierter betrachtet haben. Es gab Licht, aber auch Schatten. Für mich kommt diese Arrivage-Verkostung im Schnitt bei Weitem nicht an jene des 2019er Jahrgangs heran. Ob das für den gesamten Jahrgang gilt? Ich weiß es nicht, das wird die Zeit zeigen.
Für meinen Gaumen sind die Weine - es gibt natürlich immer Ausnahmen, die die Regel bestätigen - sehr "rund" und für den schnellen Genuss gemacht. Keine Kanten oder Ecken, kaum Tannine wahrnehmbar, kaum Säure oder Komplexität. Alles schön, schnörkellos. Und genau da sehe ich das Problem: offensichtlich wird der Jahrgang ua deshalb so gehypet, weil die Weine sehr früh sehr zugänglich sind und schon jetzt einen schönen Gesamteindruck hinterlassen. Trinkbarkeit, "Smoothness", Alkohol schön eingebunden, alles handwerklich sicher gut bis sehr gut. Mir hat es im Gegensatz zu zB 2019 an Komplexität, Typizität und ganz einfach Charakter gefehlt. Als bekennender Bordeaux-Fan muss ich sagen, dass der Trend der letzten Jahre (2019 ist da für mich eine gewisse Ausnahme) eher in Richtung gefällig, gemacht, geschliffen, charakterlos und "süß" (im Sinne von fehlender Säure) geht. Ich mag grundsätzlich Weine mit Charakter, Komplexität und dem gewissen Etwas....Bitte daher unter diesem Gesichtspunkt auch die Bewertungen zu sehen, die manchem vielleicht sehr konservativ erscheinen. Wow-Momente waren für mich im Prinzip keine dabei, egal wie lange ich darüber nachdenke.

Die Weine wurden von einem Weinkritiker, der selbst schon jahrzehntelang im Bordeaux für einen Händler einkauft, ausgewählt, rechtzeitig geöffnet und erst im Nachhinein aufgedeckt. Die gesamte Verkostung war also blind. Wir wussten nur, dass die jeweiligen 3er-Flights von jeweils einem bestimmten Ufer waren....und: alle, auch die erfahrenen Verkoster am Tisch hatten wirklich Mühe, überhaupt das Ufer zu erraten, so ähnlich präsentierten sich die Weine in diesem Stadium. Ich weiß nicht, ob ich das als positiv werten soll...?
Trinktemperatur aus meiner Sicht perfekt, eher auf der kühleren Seite. Diese Tatsache war vielleicht auch mit verantwortlich, dass bei allen Weinen der Alkohol nicht scharf oder brandig aufgefallen wäre...
Meine Eindrücke und Bewertungen habe ich vor dem "Aufdecken" niedergeschrieben, also tatsächlich völlig ohne Beeinflussung
Dort, wo ich auch bei der 2019er Arrivage den gleichen Wein verkosten durfte, notiere ich auch kurz meinen persönlichen "Jahrgangsvergleich", bei der Arrivage 2020 und 2021 hatten wir leider fast ausnahmslos andere Weingüter am Tisch.

Capbern
Ein Wein, den ich (inklusive seiner Geschwister Marquis de Calon und Calon Segur) grundsätzlich sehr gern mag. Diesmal war er sehr glattgebügelt, everybody's darling, blaubeerig, etwas Nagellack im Hintergrund, einfach leider charakterlos und anonym. Gut gemacht, keine Beschwerden, aber auch kein großes Erlebnis. 90 (-2 gegenüber 2019)

Reserve de la Comtesse
Dieser Zweitwein wird diesmal ja sehr hoch gepriesen. Auch dieser Wein ist sicher sehr gut gemacht. Für mich aber im Moment extrem störend, dass Holz und Vanille den Fruchteindruck komplett überdecken. Die Aromen von Heidelbeeren und Brombeeren kommen nur ansatzweise zum Vorschein. Tanninstruktur sehr geschliffen, Länge mittelprächtig. 91 (2019 gleich)

Branaire Ducru
Deutliche Noten von Johannisbeeren und etwas Brombeere. Wirkt komplexer und frischer als die Vorgänger, mehr Kanten über die Tanninstruktur. Endlich auch etwas Kräuter und florale Noten. Wäre da nicht immer noch das Holz über die Vanille präsent würde ich bei der Benotung höher gehen...92 (einen Hauch besser als 2019)

Berliquet
Für mich zugegebener Maßen ein Neuling. Heidelbeeren, etwas Kirsche, etwas Kräuterwürze. Keine Tannine wahrnehmbar, aber auch kaum Struktur und Komplexität. Wiederum schön gemacht, gibt nichts auszusetzen, aber auch kein Erlebnis! Hätte dieses Preisniveau blind nicht ansatzweise vermutet. 90+ (2019 nicht dabei)

Laroque
Einer der wenigen Weine (und das will was heißen), den ich ohne zu zweifeln jederzeit ans rechte Ufer verortet hätte. Tomatenmark, süße vegetable Aromen, sehr fleischig und eigenständig. Sehr schön und würde ich jederzeit in diesem Stadium öffnen und trinken, obwohl ich bisher kein großer Fan des Weinguts war. 92 (+3 gegenüber 2019)

Tour Saint Christophe
Wer diesen Wein aus vergangenen Jahren gut kennt, hat die Chance, ihn blind wieder zu erkennen. Nachdem ich seit 2017 alle Jahrgänge schon einmal im Glas hatte und aufgrund des Laroque vermutete, dass wir am rechten Ufer sind, war es fast eine Punktlandung. Sehr typischer Tour St. Christophe. Blaubeerig mit leicht burgundischen Anklängen, zwar poliert, aber nicht ganz schnörkellos. Perfekt integriertes Holz und vor allem ein sehr langer Abgang. Hier wird für mich, weil ich den Wein eben recht gut kenne, der Jahrgangsunterschied zu 2019 deutlich. 2019 hatte eben auch diese frischen Kräuter- und Tabakaromen, die den Duft etwas komplexer machten. Schwer zu beschreiben. Für den Preis sind die letzten beiden Weine aber wirklich sehr gut gelungen. 93 (knapp unter dem Niveau von 2019)

Canon-la-Gaffeliere
Für mich einer der Weine des Abends! Völlig anderer Gesamteindruck als die Vorgänger. Die Paprika und Pfefferoni-geprägte Nase lässt sofort vermuten, dass hier CF und CS dem Merlot die Stirn bieten. Sehr schon komplex. Vielleicht deshalb so erfrischend, weil sich davor eben ein gewisser Einheitsbrei an Geschmäckern und Gerüchen gebildet hatte. Der Wein wirkt auch durchsichtiger, burgundischer im Gesamteindruck. Dennoch Extrakt und Geschmack. Auch Komplexität und Struktur ohne Makel. Sehr gut mit Potential. 94+ (knapp über 2019)

Clinet
Für mich die große Enttäuschung des Abends. Alle waren sich einig, dass es sich nicht um eine defekte Flasche handeln konnte, zumal bei der Verkostung immer jeweils 2 Flaschen die Runde machten (knapp über 20 Teilnehmer), und auch die 2.Flasche nicht anders schmeckte. Holz, Vanille und wiederum Holz und Vanille! Etwas Heidelbeerjoghurt darunter. Als ob man Heidelbeerjoghurt aus einem getoasteten Eichenfass löffelt. Mir fällt keine bessere Beschreibung ein. Ich hoffe, dass sich das in den nächsten Jahren legt, dass sich das Holz integriert. Derzeit für meinen Geschmack wirklich kaum mit Genuss trinkbar. Würde ich bewerten müssen, wäre ich bei einem mittleren bis hohen 80er! (den 2019 hatte ich nicht im Glas, allerdings war hier der 2021er bei der Arrivage für mich vor einem Jahr überragend!)

Pavie Macquin
In der Nase etwas Lack, aber nicht störend. Das erste Mal wirklich nennenswerte Säure im Spiel! Relativ viel Tannin am Gaumen, sehr gute Länge! Der einzige Wein mit tabakigen und pilzigen Anklängen. Wirkt also komplex. 93-94 (würde ich eine Stufe unter 2019 ansiedeln)

Clerc Milon
Blind hätte ich St.Julien vermutet. Kräuter, Johannisbeere, Preiselbeeren, etwas fleischig. Gute Struktur, schön gemacht, fehlt aber an Komplexität und Länge, um als groß durch zu gehen. 92 (2019 nicht im Glas)

Rauzan-Ségla
Der einzige Wein, dessen Appellation ich blind erkannt habe. Typsiche Johannisbeer-, Brombeer- und Kräuteraromen, sehr blumig, dunkel und frisch. Wirklich gelungen! Hält auch lange and und wirkt komplex. 94 (Für mich etwas besser als 2019)

Smith Haut Lafitte
Hier merkt man mit jeder Minute im Glas, dass sich der Wein entwickeln muss. Wirkt so, als ob er hinter einem eisernen Vorhang versteckt wäre. Dahinter wunderbare Brombeer-, Heidelbeer- und Kirscharomen. Perfekte Tannine, leicht laktische Noten. Der einzige Wein, der mit einem gewissen Kuhstall-Parfum zu kämpfen hatte. Großes Potential - derzeit 94 (etwas unter 2019)


Wenn ich an einen kürzlich getrunkenen Domaine de Chevalier 2021 denke (richtig gut!) komme ich zur Überzeugung, dass ich keine Jahrgänge mehr von vorn herein als gut oder schlecht abstemple. Auch die Meinung der Kritiker sind mir in Zukunft nicht mehr sooo wichtig. Ich werde in Zukunft immer die Arrivage abwarten und erst dann kaufen. Clinet 2021 würde ich nämlich jederzeit kaufen, 2022 auf keinen Fall! Aber mein Gaumen schwimmt hier offensichtlich gegen den Strom...Wichtigste Erkenntnis generell: 2019 bietet für mich mit den damaligen Preisen (die ja seither kaum gestiegen sind) ein markant besseres Preis-/Genussverhältnis als 2022. Wie gesagt: die Zeit wird zeigen, ob der erste Eindruck täuscht...
Schöne Grüße, Markus
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Winedom
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Re: Bordeaux 2022

Beitrag von Winedom »

Vielen Dank für deine Mühe und Einschätzungen.
Schon sehr interessant. Die 2022 Geschichte ist also noch nicht ausgeschrieben.
Bleibt spannend ob ein ein so heißer Jahrgang genug Spannung, Säure und Struktur ausarbeiten und erhalten kann.
Die Übersee Gaumen haben da vielleicht weniger zu mäkeln.
Ich bin Gott sei Dank breit aufgestellt im Geschmacksbild.
Aber was ich schon befürchte ist eine geschmackliche Uniformität. Will ja nicht immer den gleichen Wein trinken.
Genauso wenig wie immer den gleichen Jahrgang. Da kann er noch so gut sein.
Viele Grüße
Rainer


"Nein, Alkohol trinke ich nicht. Ich trinke hier einen Schoppen Winzerwein!"
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Jochen R.
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Re: Bordeaux 2022

Beitrag von Jochen R. »

Du Retout 2022:
Schwarz mit violetten Reflexen. Die Nase gleich nach dem Öffnen so einladend fruchtig mit Kirschen, Heidelbeeren, auch etwas Heidelbeerjoghurt. Dann Leder, Mocca, Tabak, frische Minze, scharfer Pfeffer. Einladend würde ich aber spätestens 2 Stunden später zurückziehen, denn die « überbordend süße » Frucht nervt so langsam.
Mittelgewichtig, süße Früchte, am Gaumen wird das viel schneller sehr anstrengend, mittellanger Abgang. Sorry, aber für meinen Geschmack geht das überhaupt nicht.

Viele Grüße,
Jochen
"Viele haben eine Meinung, aber keine Ahnung." (Franz Müntefering)
Stephane Franc
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Re: Bordeaux 2022

Beitrag von Stephane Franc »

Hallo zusammen,

Ich habe mir zum Jahrgang 2022 aufgrund der Diskussion hier meine Gedanken gemacht.

Probieren konnte ich bisher direkt nach der Arrivage Tronquoy, De Pressac und Les Carmes Haut Brion. Schließe mich den Vorrednern vollumfänglich an. Hedonismus, Süße, geringe Säure und verdeckte Tannine. Lecker jetzt. Von den Kritikern hoch gelobt. Auch ich hatte initial spontan Zweifel an deren Langlebigkeit. Ich persönlich vermag das aber nicht wirklich zu beurteilen, da Erfahrungswerte mit solch trockenen Jahrgängen bei mir fehlen. Die Kritiker sehen in der Regel eine hohe Lagerungsfähigkeit. War da nicht ein Cheval blanc 1947? Anmerken möchte ich, dass ich dem Tronquoy keine Ersatzrolle für den Montrose sehe, auch wenn aus gleichem Haus. Die Noblesse und Distinguiertheit eines Montrose hat er nicht.

Selbst bei Weinhändlern könnte man versuchen, zwischen den Zeilen zu lesen. Ich habe mir deshalb den Spaß (und Arbeit ;-))gemacht, heute auf der Homepage eines bekannten, großen Weinhändlers aus Bremen (Lobenberg) seine aktuell im Angebot befindlichen 251 Bordeauxs 2022 durchzuscrollen und relevante Zitate zum Jahrgang hier wiederzugeben.

1. Allgemeine Jahrgangsbeschreibungen:
"Homogene, balancierte Weine"
"Extrem harmonisches Jahr, aber es ist in der Gleichförmigkeit in der hohen balancierten Qualität auch ein klein wenig langweilig"
"Selbst Weine für 15 oder 20 Euro sind extrem balanciert und köstlich"
"Reiche, starke Fruchtigkeit mit seidigen Tanninen"

2. Zitate aus Beschreibungen zu einzelnen Weinen:
" Bringen natürlich die Cabernets den Touch Aufregung dazu, den der Jahrgang aufgrund ob seiner großen Harmonie zum Teil vermissen lässt
"Es fehlt ein bisschen die sonst übliche Cassis und rote Johannisbeere"
"Alles auf roter Frucht, das hätte ich so eindeutig in 2022 nicht erwartet"
"Pauillac mit leicht maskulinem Approach, aber noch mehr mit der Weicheit aus 2022"
"Viele 2022er sind ob ihres Supercharmes und der Weichheit der Tannine verkommen zu superweichen spanischen Tempranillos"

Soviel zum Lesen zwischen den Zeilen. Wenn man sich den Wetterverlauf von 2022 anschaut und wenn ich meine eigenen wenigen Eindrücke einfließen lasse, dann kann ich die Aussagen nachvollziehen. Jeder, der Bdx 2022 kauft, kann wissen, worauf er sich einlässt. Ich persönlich vermute, dass deren Lagerfähigkeit höher ist, als bei der Arrivage zu vermuten ist. Stilistisch scheint der 2022er konsistent über die Apellationen zu sein.

Gruß, Stephane
la-vita
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Re: Bordeaux 2022

Beitrag von la-vita »

Für mich auffällig ist die Diskrepanz der nun hier erscheinenden Ersteindrücke der Arrivage zu den Eindrücken der Profiverkoster bei den Primeurs. Von den einst hochgelobten Attributen des Jahrgangs wie knackige Frucht, Frische und Eleganz lese ich hier im Verkostungsalltag nichts mehr. Mein Eindruck ist, das sich langsam eine leise Ernüchterung breit macht. Täusche ich mich?

Gruß
Detlef
Ollie
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Registriert: Mo 6. Jun 2011, 12:54

Re: Bordeaux 2022

Beitrag von Ollie »

la-vita hat geschrieben: Mo 2. Jun 2025, 09:53 Von den einst hochgelobten Attributen des Jahrgangs wie knackige Frucht, Frische und Eleganz lese ich hier im Verkostungsalltag nichts mehr.
Seit Chrysostomuses sehr(!) gutem Beitrag juckt es mich in den Finger, eine lange Antwort zu schreiben, aber ich komme gerade nicht dazu.

Deswegen eine ganz kurze Anmerkung: Ich glaube nicht, im Zusammenhang mit 2022 von einer knackigen Frucht gelesen zu haben? Das Wort "croquant", das dann immer benutzt wird, habe ich jetzt nicht als Attribut des Jahrgangs im Kopf, das wäre eher 2021.

Ich glaube, ich habe mich sogar mal hier im Strang darüber aufgeregt, daß die Kritiker "Frische" schreiben, aber damit nur "Säure" meinen und eben nicht "frische Frucht". Der Jahrgang hat enorm viel Frucht, deren Süßeeindruck durch die hohe Säure IMO sogar noch gehoben wird, daher sind die Weine oft etwas anstrengend zu trinken, weil das so ein konturloses Süß-Sauer wird.

Wenn man mit der jetzigen, eigenen Erfahrung die Kritikereinschätzungen zur Arrivage, die von Farr Vintners im März gepostet wurde, noch mal genau liest, kann man sogar sehen, wo gewarnt wurde (Hervorhebungen von mir):
Thomas Parker MW hat geschrieben: Stylistically, [Antonio Galloni] says the vintage has produced "rich, heady young wines with considerable baby fat and plenty of both textural intensity and freshness."

...

While I concede the best wines do show remarkable freshness considering the year's conditions, it is important to frame that these are still big wines, ripe and rich for Bordeaux. Alcohols are not as high as a vintage like 2018, but they are above average. In part due to this and in part due to their fragrance and balance they are a marked step up on the at-times cumbersome 2018s and are certainly better defined than vintages like 2003, but don't expect moderate alcohol and graphite-tinged, edgy wines.
Ich bin sicher, wenn man die en-primeur-Notizen noch mal liest, kommt man auf eine sehr ähnliche Zusammenfassung. Und die Lektion: Wir müssen aufhören, vorauseilend die meteorologische besten Jahre mit den besten und die meteorologisch schlechten Jahre mit den schlechtesten Weinen in Verbindung zu bringen. (Bemerkenswerterweise schwärmt Chrysostomus immerhin vom 2021er!) Wobei man sagen muss, daß 2022 eben nicht rundum ein perfektes Jahr war, im Gegensatz zu 2019, wo die schwierigste Frage ja nur noch die nach dem Material des Korkens war.

Wie ich schon seit einigen Jahren hier schreibe, werden Jahre wie 2022 in den kommenden 10 Jahren als "die guten" und Jahre wie 2021/24 als "die schlechten" bezeichnet werden, mit einem Aufkommen im zu erwartenden Verhältnis von 3:1. Und das ist der eigentliche Grund dafür, daß die Subs "tot" ist - zumindest für den Endverbraucher, denn die en-primeur-Kampagne wird sich wieder zu dem zurückentwickeln, was sie vor Parker war: eine Vorabinformationsveranstaltung für den Handel.

Jeder Konsument wäre schlecht beraten mit einem Termingeschäft, wenn man gar nicht weiß, wie der Wein wirklich schmeckt - und Kritikernotizen können wir offenbar nicht richtig lesen, sonst hätten wir ja den Salat gar nicht. Und angesichts der extremen Häufung solcher Superjahrgänge ist auch die Spekulationsfantasie weg.

Stellt sich die Frage, ob uns Bordeaux mit 2024 nur ein paar Knochen hingeworfen hat oder vielleicht doch den ganzen Vogel, weil die nämlich auch Probleme haben. Und ich erwähne nur am Rande, daß 2023 beschrieben wurde als "Return of Bordeaux to France" (meine Wortwahl), nachdem 2022 ja "eher in Napa verortet" sei.

Cheers,
Ollie
Yeah, well, you know, that’s just like, uh, your opinion, man.

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harti
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Re: Bordeaux 2022

Beitrag von harti »

Ollie hat geschrieben: Mo 2. Jun 2025, 11:56
la-vita hat geschrieben: Mo 2. Jun 2025, 09:53 Von den einst hochgelobten Attributen des Jahrgangs wie knackige Frucht, Frische und Eleganz lese ich hier im Verkostungsalltag nichts mehr.
Ich glaube, ich habe mich sogar mal hier im Strang darüber aufgeregt, daß die Kritiker "Frische" schreiben, aber damit nur "Säure" meinen und eben nicht "frische Frucht". Der Jahrgang hat enorm viel Frucht, deren Süßeeindruck durch die hohe Säure IMO sogar noch gehoben wird, daher sind die Weine oft etwas anstrengend zu trinken, weil das so ein konturloses Süß-Sauer wird.
Hi Ollie,

mit diesem Satz stellst Du alles auf den Kopf, was ich über das Säure-Süße-Spiel im allgemeinen und die 22er Bdx im besonderen zu wissen glaubte. Ich habe immer gedacht (und dann jeweils sensorisch wahrgenommen): Je säurebetonter ein Wein, desto weniger ist die Süße zu schmecken; und: Beim 22er Bdx tritt die Süße der Weine deswegen merklich in den Vordergrund, weil die Weine so schlapp in der Säure sind (oder anders herum, einen hohen pH-Wert haben). Süß-saure Weine hatte ich bei den 14 Exemplaren, die ich an 22er Bdx weggegurgelt habe, jedenfalls nicht dabei.

Grüße

Hartmut
Ollie
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Re: Bordeaux 2022

Beitrag von Ollie »

Hallo harti,

es war lediglich mein Eindruck, daß die teilweise überraschend hohe Säure und diese (am rechten Ufer) sehr süßliche, rote Frucht die Weine fast etwas quietschig machen. Aber bei Rotwein ist dieser Effekt deutlich weniger ausgeprägt (so er denn überhaupt existiert), weil die Süße ja von der überbordenden Frucht kommt und nicht von echtem Restzucker (im Gegensatz zu "trockenen" Rieslingen etwa). Und je "rote-grütziger" die Frucht, desto stärker mein Eindruck.

Übrigens hat bislang keiner der "großen" Weine irgendwie schlapp oder säurearm auf mich gewirkt. (Außer Gloria vielleicht, aber den fand ich eh furchtbar.) Aber ich hatte bislang noch kein Dutzend, und aus irgendeinem Grund trinke ich mich völlig chaotisch durch's Gebiet. Dennoch verstehe ich, was du meinst (und andere auch), wenn dir die Weine "zu labbrig" erscheinen.

Witzigerweise fand ich Branaire-Ducru am vergangenen Freitag extrem weich und fast schon harmlos, insofern habe ich gut geschmunzelt, als Chrysostomus ihm Tannine und Struktur bescheinigt hat. (Der Wein hat sich aber über zwei Stunden aromatisch extrem verändert, also will ich nichts an diesem einen Datenpunkt festmachen.)

Ich habe bis Samstag Mittag gebraucht, bis ich wusste, woran der Branaire mich erinnerte: an einen jungen 1999er Laira Cabernet Sauvignon von Brand's of Coonawarra. Schon jung mit so wenig Tannin wie ein klassischer Bordeaux nach 20 Jahren erst. Aber so viel Frucht, daß die lange überdauert. Deshalb denke ich auch, daß der Großteil der 2022er auch sehr lange leben wird - die Australier haben's ja vorgemacht.

Cheers,
Ollie
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Charmail
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Re: Bordeaux 2022

Beitrag von Charmail »

Am Wochenende gab es über zwei Tage Chateau Belgrave neben Chateau Meyney:

Chateau Belgrave:

Im Duft gibt es einen Mix aus Himbeeren und Brombeeren, ein wenig Kirsche und Johannisbeere, nicht sonderlich komplex. Das Fruchtprofil am Gaumen ist recht hell, knackig und mittel intensiv, Säure hoch, was für Frische und Auftrieb sorgt, allerdings fehlt es auch hier an Tiefgang und Komplexität. Er wirkt relativ leichtfüßig, ohne Ecken und Kanten, dieses voluminöse, was ihm attestiert wurde, konnte ich nicht nachempfinden. Die Länge ist auch eher mäßig. Im Moment hat er recht wenig zu bieten, da fällt es mir schwer zu glauben, dass da noch viel mehr kommt in Zukunft. Insgesamt wirkt ziemlich glattgebügelt und charakterlos.
Fazit: ziemlich beliebig und belanglos zugleich. Da hatte ich schon bessere Jahrgänge im Glas gehabt. 90+P

Chateau Meyney:

Der Duft ist deutlich intensiver und vielschichtiger, es gibt schwarze Johannisbeeren, Brombeeren, Cassis, Schwarzkirsche, Minze, Lavendel und Rauch. Das Fruchtprofil ist dunkler und mächtiger, mit viel Energie und Frische. Der Wein ist wunderbar konzentriert, die Frucht fleischig, saftig und delikat. Neben dieser Fruchtorgie gibt es auch eine mineralische Komponente in Form von Graphit und Bleistiftmine. Die Konzentration ist genau richtig, der Wein besitzt stets Kraft, wirkt aber gleichzeitig sehr natürlich und ausgeglichen. Die Tannine sind wunderbar reif und abgerundet, das Holz, sowie Säure und Alkohol sind im richtigen Maße eingebunden. Der Wein hat am zweiten Tag nochmals zugelegt, mit mehr Definition und Eigenständigkeit.
Fazit: absolut gelungener Meyney, mit strahlender Persönlichkeit, der den Belgrave locker in die Tasche steckt. 92+P (mit Potenzial)

Cheers Steffen
Trotzki
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Registriert: Di 19. Jan 2021, 08:57

Re: Bordeaux 2022

Beitrag von Trotzki »

Hatte auch bereits einige 2022er im Glas (und auch schon bei einer Fassprobe/Primeur).
Hier von mir noch einige sehr subjektive Eindrücke. Habe leider keine Notizen gemacht (war vor einer Woche ungefähr):

Ja, viele waren mir auch etwas zu rund, zu schön und zu fruchtig. Ich mag aber auch sehr gerne Struktur (Säure und knackige Tannine, am besten mit 13 Vol.), also gab es da teilweise Probleme ;-) So z.B. La Chapelle de la Mission-Haut-Brion 2022, Mondot, Clarence Haut Brion,
Clinet sogar enttäuschend (relativ elegant, saftig, aber relativ wenig Struktur für ein solches Kaliber) - bei der Primeur-Probe fand ich ihn viel besser. Pape-Clement schon vor 2 Jahren eher durchschnittlich, jetzt nicht wirklich überzeugend, dafür fairer Preis für 2022. Pontet-Canet fand ich besser als den 2019. DdC schön, aber mir fast zu üppig. 2021 macht mir da persönlich auch mehr Spass (wie es in fünf Jahren aussieht, weiss ich nicht). Meyney fand ich schön, aber aber auch etwas zu rund, zu samtig (Saint Julien???) - mir gefällt er mit etwas mehr "Burschikosität" besser, aber wie andere zurecht bemerkt haben, grossartiger Wein! Retout dann zu süss.

Ganz ok fand ich einige "kleinere" z.B. den Petit Ducru von Ducru-Beaucaillou (besonders zum Preis von 26 CHF). Chateau Cantemerle auch mit viel Charakter.

Sehr schön dann Talbot (überraschend! sonst seit vielen Jahren eher durchschnittlich).
Fazit: Blind kaufen empfiehlt sich auch bei einem Jahrhunderjahr nicht zwingend!

Direkt dazu im Vergleich gab's Château Ducru-Beaucaillou und LCB von 2021. Beide hatten die Frische, Eleganz und aromatische Tiefe mit tollen Tanninen, besonders der Ducru der so 98 % Cabernet Sauvignon hatte. Die Stilistik, bei allen Unterschieden zwischen den beiden, fand ich grossartig! Natürlich beide viel zu jung, vor allem ersterer.

Jetzt hat 2021 einfach ein grosses Problem: Zu teuer (besonders im Vergleich zu 2024 und 2017).
Es lebe 2024! ;-)
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