"Bordeaux 2022 war ein Jahrgang, der von großer Hitze geprägt war. Warum also wirken die Weine so ausgewogen und elegant? In seinem letzten Blog über die En-Primeur-Verkostung geht Simon Field MW den möglichen Erklärungen nach.
"Un millésime chaud qui ne fait pas comme un millésime chaud" (ein heißer Jahrgang, der sich nicht wie ein solcher verhält), so beschreibt Henri Lurton von Château Brane Cantenac den Jahrgang 2022 und fügt hinzu, dass es sich um den besten handelt, den er seit 1961 verkostet hat, und widmet ihn seinem verstorbenen Vater Lucien Lurton, einem der bedeutendsten Eminences grises von Bordeaux, um so mehr.
Ein außergewöhnlicher Jahrgang also, dessen Weine sich scheinbar nicht um die widrigen Bedingungen scheren und in einer fast ätherischen Leuchtkraft und Harmonie schwelgen. Wie kommt das? In der Tat. Es gibt viele Theorien, und alle sprechen von Rätseln und Paradoxien, mit der Neigung, auf Anthropomorphologie zurückzugreifen, um die "Widerstandsfähigkeit" und sogar die "Intelligenz" der Reben zu erklären. Das ist natürlich eine heikle Angelegenheit, auch wenn viele sich nicht sofort dagegen sträuben würden, dass die Reben und nicht die Kritiker die wichtigsten dramatis personae sind.
Um es klar zu sagen. Es war ein sehr heißes Jahr: Die Durchschnittstemperaturen in den vier wichtigsten Sommermonaten (Mai, Juni, Juli und August) waren die höchsten seit 15 Jahren, und die durchschnittliche Niederschlagsmenge zwischen Januar und September lag deutlich unter der zehnjährigen Norm. Es herrschten Trockenheit und Hitzestress, und die Reben konnten sich nicht entwickeln. Die Folge waren dicke Schalen, kleine Beeren und geringe Erträge, die eine extrem frühe Ernte erwarten ließen. Wenn sich das alles ein wenig nach 2003 anhört, dann liegt das daran, dass es in gewisser Weise alles ein wenig wie 2003 war. Aber nicht ganz dasselbe...
Warum also sind die daraus resultierenden Weine so viel saftiger, so ausgewogen und so elegant? Relativ hohe, aber nicht übermäßig hohe Alkoholgehalte und großzügige, reife Tannine, das natürliche Erbe dieser meteorologischen Bedingungen, werden von einer ausgewogenen Säure (und einem beeindruckend niedrigen pH-Wert) und einer ausdrucksstarken Fruchtigkeit begleitet, die nur selten in den Bereich des Gekochten oder Marmeladigen abdriftet. Kraft und Zurückhaltung, Großzügigkeit und Selbstdisziplin - es ist leicht, in die Sprache des Paradoxons zu verfallen, aber viel schwieriger, eine rationale Erklärung zu liefern.
Hitzestress vs. Bedrängnis
Es wurden viele Theorien aufgestellt, einige davon widersprüchlich, viele davon plausibel. Stress muss nicht gleichbedeutend mit Not sein, wenn die Abende und Nächte relativ kühl sind (z. B. im Vergleich zu 2018 oder 2003); wenn man wohlwollenden Regen genau zur richtigen Zeit hat (in diesem Fall im Juni); wenn man im Weinberg pragmatisch vorgeht (die Bewirtschaftung des Laubes bedeutete die Anpassung der Höhe der Blätter, um einen optimalen Schutz zu bieten, und in einigen Fällen auch das Auftragen eines "Sonnenschutzes" auf Tonbasis auf die Trauben); wenn man in der Kellerei darauf achtet (u.a. durch kürzere Mazerationen, eine weniger starke Extraktionsmethode und eine sorgfältige Temperaturkontrolle); und wenn man genau zum richtigen Zeitpunkt pflückt, um die Matrix des Zusammenspiels zwischen Säure und Zucker zu respektieren. Und schließlich die ständige Wachsamkeit während der Reifung selbst, damit die wunderbare Saftigkeit, die sich derzeit zeigt, nicht von den Eichenfässern, in denen die Weine derzeit ruhen, überwältigt oder ausgetrocknet wird.
Alle diese Faktoren spielen gemeinsam und einzeln eine Rolle. Alles deutet darauf hin, dass die Bordelaiser in den letzten Jahrzehnten ihr Spiel verbessert haben; sie haben nicht mehr den verkümmerten bäuerlichen Instinkt, der pawlowsch auf die Maximierung der Zuckergewinnung ausgerichtet ist. Die physische Umgebung hat sich verändert und mit ihr auch die Menschen, die sie bewirtschaften. Ein Jahrgang wie dieser hätte vor 20 Jahren weit weniger beeindruckende Ergebnisse gebracht.
Trotz alledem sollte man die Hitze der Sonne im Jahr 2022 nicht vergessen. Einige behaupten, dass die Reben aufgrund der Trockenheit und der relativen Wärme zu Beginn der Saison (anders als etwa 2018 und 2020) in der Lage waren, sich anzupassen, sich vorzubereiten und ihre Reaktion auf den kommenden Ansturm zu kalibrieren. Andere halten dies für kontraintuitiv und behaupten, dass die kühlere, feuchtere Saison 2021 der einflussreichste Vorläufer war und den Grundwasserspiegel wieder auffüllte. Einige, wie Charlotte Mignon von Château Larrivet Haut-Brion, weisen auf die großen Unterschiede zwischen einer Dürre (einem längeren "Prozess") und einem "Canicule" (einer lang anhaltenden und intensiven Hitzewelle) hin.
Trotz der lang anhaltenden Trockenheit und der scheinbar ununterbrochenen Sonneneinstrahlung war keine der beiden wichtigsten Voraussetzungen für die Entstehung eines Hitzesommers erfüllt, nämlich eine längere Periode extremer Hitze (d. h. aufeinanderfolgende Tage mit über 35 °C) und sehr warme Nächte (d. h. über 30 °C). Stattdessen gab es 2022 mehrere über den ganzen Sommer verteilte Hitzespitzen, von denen keine so lange dauerte, und Nächte, die, wenn auch nur um ein Grad, etwas kühler waren als die von 2003 und 2018. Dies mag vor allem erklären, warum die Moste in der Lage sind, die Reife eines heißen Jahrgangs zum Ausdruck zu bringen, ohne dabei streng zu sein oder den Eindruck von Surmaturität zu erwecken. Erstaunlich, wirklich, aber so ist es nun einmal. Und alle sind sich einig."
Bordeaux lebt, mehr denn je.
Und es kommen auch wieder kühlere Sommer.
Bordeaux 2022
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Re: Bordeaux 2022
Besser hätte ich den Ferrière 2020, den "Holzklotz", wie ich ihn nannte, nicht beschreiben können! Genau das ist seiner wunderbaren Saftigkeit angetan worden.diogenes hat geschrieben:damit die wunderbare Saftigkeit, die sich derzeit zeigt, nicht von den Eichenfässern, in denen die Weine derzeit ruhen, überwältigt oder ausgetrocknet wird.
Re: Bordeaux 2022
Dann hoffen wir mal, dass der Inhalt der anderen Flaschen in deiner Kiste, eher aus dem oberen Bereich des Fasses stammt und deswegen weniger holzlastig istpessac-léognan hat geschrieben:Besser hätte ich den Ferrière 2020, den "Holzklotz", wie ich ihn nannte, nicht beschreiben können! Genau das ist seiner wunderbaren Saftigkeit angetan worden.diogenes hat geschrieben:damit die wunderbare Saftigkeit, die sich derzeit zeigt, nicht von den Eichenfässern, in denen die Weine derzeit ruhen, überwältigt oder ausgetrocknet wird.

carpe vinum!
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Re: Bordeaux 2022
Das hoffe ich natürlich auch, oder auch, dass sich das Holz auf Dauer besser integriert, mehr in den Hintergrund tritt, die "Saftigkeit" wieder mehr zur Geltung kommt.diogenes hat geschrieben:Dann hoffen wir mal, dass der Inhalt der anderen Flaschen in deiner Kiste, eher aus dem oberen Bereich des Fasses stammt und deswegen weniger holzlastig istpessac-léognan hat geschrieben:Besser hätte ich den Ferrière 2020, den "Holzklotz", wie ich ihn nannte, nicht beschreiben können! Genau das ist seiner wunderbaren Saftigkeit angetan worden.diogenes hat geschrieben:damit die wunderbare Saftigkeit, die sich derzeit zeigt, nicht von den Eichenfässern, in denen die Weine derzeit ruhen, überwältigt oder ausgetrocknet wird.
Was ich aber - diese Einzelerfahrung verallgemeinernd - eigentlich sagen wollte: dass Weine aus Jahrgängen wie 2019, 20, 22 etc. ein (wahrscheinlich extrem aufwendiges) Holzmanagement erfordern, damit sie, wenn sie in den Verkauf gelangen, noch etwas von der Frische und Saftigkeit bewahren, die von den Verkostern en primeur derart gerühmt wird und die Benotungen in euphorische Höhen treibt - was dann vielleicht nach der Arrivage zu scharfen Korrekturen führen könnte (müsste). Ich hatte z.B. bereits bei manchen 19ern (etwa bei Malescot Saint-Exupéry) genau diesen Eindruck. Möglich, dass dieses Phänomen besonders Weine aus dem mittleren Preissegment betrifft, die sich (bislang) extrem kostspielige Ausbaudifferenzierungen (neue Eichenfässer, mehrjährige, Beton-Eier, Amphoren) nicht leisteten, dies aber zukünftig leisten müssen, um der Eiche Herr zu werden... Dies alles zusätzlich zum Aufwand in den Reben, um die Trauben vor exzessiver Hitze zu schützen (man vergleiche etwa den von Adrian vV beschriebenen Aufwand beim Pontet-Canet 2022, der ja nun trotzdem [oder gerade deswegen?] nicht gewaltige Unterschiede in der Wahrnehmung des [vorläufigen, es handelt sich ja erst um Fass- bzw. Amphorenproben!] Endproduktes verhindert (Adrian 99; W. Kelley, soweit ich es sehe, 92 mit dickem ?).
Gruß
Jean
Re: Bordeaux 2022
Nicht nur das, auch Lobenberg hat dich wohl teilweise in seine zur Verfügung gestellten Bewertungen aufgenommen, z.B. hier: https://www.gute-weine.de/produkt/chate ... 22-60575h/vanvelsen hat geschrieben:Für alle, denen die Suche nach 2022er Tasting Notes auf meiner Webseite zu kompliziert war: Seit heute sind meine aktuellsten Primeur-Bewertungen auch auf Wine-Searcher online... https://www.wine-searcher.com/find/bord ... g_site=VWN
Gruss,
Adrian
Nicht schlecht!
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Re: Bordeaux 2022
Beim Tronquoy törnt mich sowohl die Beschreibung von Lobenberg ab (obwohl er 96-97+) Punkte gibt, als auch das was WK zum Wein zum Besten gibt. Hier das Rating:
The 2022 Tronquoy (formerly Tronquoy-Lalande) is an especially rich and powerful wine, offering up aromas of dark berries and cherries framed by creamy new oak, followed by a medium to full-bodied, rich and fleshy palate structured around lively acids and powdery tannins that assert themselves on the vanillin-inflected finish. A blend of 59% Cabernet Sauvignon, 35% Merlot and 6% Petit Verdot (which is an atypically high percentage of Cabernet from this estate, especially in a vintage where Merlot delivered better yields), it would appear to be intended to make an impression en primeur, as Tronquoy is now being sold on the place. That's a pity, as this estate's considerable intrinsic qualities would surely have made enough of an impression on their own. 89-91
The 2022 Tronquoy (formerly Tronquoy-Lalande) is an especially rich and powerful wine, offering up aromas of dark berries and cherries framed by creamy new oak, followed by a medium to full-bodied, rich and fleshy palate structured around lively acids and powdery tannins that assert themselves on the vanillin-inflected finish. A blend of 59% Cabernet Sauvignon, 35% Merlot and 6% Petit Verdot (which is an atypically high percentage of Cabernet from this estate, especially in a vintage where Merlot delivered better yields), it would appear to be intended to make an impression en primeur, as Tronquoy is now being sold on the place. That's a pity, as this estate's considerable intrinsic qualities would surely have made enough of an impression on their own. 89-91
Re: Bordeaux 2022
Zur Erheiterung
Auf der Seite Vinum wird Suckling mit "säugend" und Quarin mit "Viertel" übersetzt.
In der Kombination wohl an einem "Viertele säugend". Das kommt mir irgendwie bekannt vor.
Prost!
Hans-Rudolf
Auf der Seite Vinum wird Suckling mit "säugend" und Quarin mit "Viertel" übersetzt.
In der Kombination wohl an einem "Viertele säugend". Das kommt mir irgendwie bekannt vor.
Prost!
Hans-Rudolf
Re: Bordeaux 2022
Chateau Tronquoy 24.60 Fr.- bei Gerstl in der CH.
Gruss
Hans-Rudolf
Gruss
Hans-Rudolf
Re: Bordeaux 2022
Bei Grimm (Bacchus Vinothek, https://www.bacchus-vinothek.de/) kann man mit der Schaltfläche "Die Subskription als PDF" seine Notizen zu 2022 herunterladen. Klar, er ist ein Händler und will die Sachen auch verkaufen. Trotzdem finde ich die Notizen durchaus wertvoll und ich glaube jeder hier im Forum kann das einordnen. Bei einigen kleinen Weinen stehen auch schon Preise.
Und nein, ich bekomme keine Provision von ihm, bestelle aber durchaus regelmäßig dort und war immer sehr zufrieden.
Und nein, ich bekomme keine Provision von ihm, bestelle aber durchaus regelmäßig dort und war immer sehr zufrieden.
Man muss immer etwas haben, worauf man sich freut. (Eduard Mörike)
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Re: Bordeaux 2022
Keine Angst vor Tronquoy - das ist top Stoff für wenig Geld und wenn die Beschriebe etwas "fett" klingen - no panic, das Ding hat viel Eleganz und ist zu diesem Preis echt ne Sünde wert... Gruss, Adrian