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Hohe Brisanz, kurzes Verfallsdatum
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Grenzen der Weinkritik

Mo 19. Okt 2015, 13:35

Der Tod von Mario Scheuermann, deutscher Weikenner, Weinkritiker und Fachautor Kulinarik hat bei in die Frage nach Sinn und Grenzen der Weinbeschreibung und -bewertung wieder einmal ins Bewusstsein gebracht. Die Tatsache, dass ihn auch jetzt über seinen Tod hinaus (und wahrscheinlich noch lange) Lob und Tadel, Anerkennung und Ablehnung, Liebe und – ja sogar - Hass begleiten, verführt mich zu ein paar Gedanken zur Weinkritik. Es sind Fragen, die immer wieder gestellt und meistens an Robert Parker abgehandelt werden: am Guru, dem Papst, dem Einflussreichen, dem Korrupten (so deutlich wird dies selten gesagt, aber immer wieder angedeutet), dem Geheimnisumwitterten… und (fast immer) auch am Emotionalen. Lässt sich Weinbeurteilung überhaupt von solchen Begriffen trennen? Ist Weinbewertung ein Fachgebiet, das Wissenschaftlichkeit beanspruchen kann? Gibt es ein System mit fixierten Begriffen, Kategorien, Massstäben, Gesetzen etc., mit denen Weinerfahrung verbindlich definiert werden kann? Da streiten sich (bekanntlich) die Geister: das Spektrum reicht von totaler Verneinung bis zu blindem Glauben.
2881 Die gängige Nomenklatur hat sich inzwischen so entwickelt, dass mit ihren Begriffen und Zahlen immer auch Verbindlichkeit oder Wissenschaftlichkeit vorgegaukelt wird. Allfällige Störfaktoren (wie Lagerung, Rahmen der Verkostung, Temperatur, Beeinträchtigung in der Sensorik, die Tagesform etc.) – werden von der „seriösen“ Weinkritik – soweit dies geht – ausgeklammert oder vereinheitlicht. Da gibt es – dies ist unbestritten – trotzdem riesige Unterschiede, vom spontanen Krickseln auf einen Zettel bis hin zur ernsthaften Suche nach verbindlichen Normen, meist eher geprägt von Dilettantismus als von überprüfbaren Normen. Dies alles ist weder schlimm, noch verwerflich, würde da nicht eine wirtschaftliche Konsequenz eine entscheidende Rolle spielen. Nicht nur dies: damit verbunden ist auch fast immer eine persönliche Bestätigung oder Kränkung – nicht nur des Weinmachers, des Weinhändlers, des ausgebildeten oder selbsternannten Weinfachmanns - auch – und vor allem – des Weintrinkers. Nehmen wir an, ich finde einen Wein gut, recht passabel, vielleicht sogar grossartig. Meine Sinne, meine innere Stimme sagt mir – lecker! – (was in der Weinkritik verpönt, ja verboten ist, weil „lecker“ keine messbare Kategorie) und die Kritik sagt zum gleichen Wein: mittelmässig, unbedeutend, schlecht, oder gar ungenissbar – verbunden mit einer Note wie 14/20 oder 75/100. Welch schreckliche Beleidigung! Man sucht sich „seinen“ Weinkritiker aus oder schiebt solche Erfahrungen – sie sind der Alltag beim allgemeinen Weinkonsum – ab in die Redensart: „Über Geschmack lässt sich nicht streiten!“. Doch die Kränkung ist da, die Verunsicherung bleibt, die Infragestellung der eigenen Wertordnung ist angezettelt. Und wie trifft es gar den Produzenten, den Winzer, den Winzerbetrieb, der ein Jahr lang gearbeitet hat, und nun sein Verdienst, seinen Lohn, in Empfang zu nehmen in Empfang nehmen möchte? Er wird allzuoft abgekanzelt oder (im Verhältnis in verschwindet kleiner Zahl) auch mal hochgelobt – gar in den Weinhimmel – erhoben? Als Bordeaux-Liebhaber und –sammler kann ich davon ein Lied singen.
2880 Nun habe ich begonnen – auch eine Folge meiner Gedanken zum plötzlichen Tod von Mario Scheuermann (schliesslich bin ich zehn Jahre älter) – meine Weinbibliothek zu entstauben. Nicht nur vom Staub zu befreien, auch von dem, was überholt ist, was keinen Bestand (mehr) hat, was ich – wieder eine subjektive Entscheidung – als wenig nützlich entsorgen kann. So kommt es, dass ich in so manchem der Büchern (es sind immerhin ca.200) geblättert, gelesen, geschnuppert habe, Aussagen erhascht und Widersprüche aufgereiht habe, die sich (fast) alle unglaublich seriös, oft auch wissenschaftlich, fast immer aber ernsthaft geben, sich aber dauernd – fast schon auf Schritt und Tritt – widersprechen, Gesagtes oder Geschriebenes relativieren und – in so vielen Fällen nichts anderes (und nicht viel mehr) sind als sehr persönliche Aussagen. Dieses, mein Geschmöcker, ist der Grund, warum ich hier – im Forum - (wieder einmal) die Grenzen der Weinkritik gerne diskutieren und ausloten möchte.

Re: Grenzen der Weinkritik

Mo 19. Okt 2015, 14:34

Hallo Peter,

ein sehr interessantes und komplexes Thema mit vielen Aspekten, von denen du in deinem Posting ja schon mehrere angesprochen hast.

Meiner Meinung nach hat sich die Weinkritik - nicht nur, aber besonders - durch die Praxis der Punktevergabe, von Rankings etc. in eine Richtung entwickelt, wo sie mehr Probleme schafft als löst. Letztendlich suggerieren numerische Punkteskalen objekte Messwerte, wie man sie z.B. in der Physik kennt - aber das kann natürlich ein persönliches, von vielerlei Umständen abhängiges Werturteil eines Kritikers nie erfüllen. Bei Musikstücken oder Gemälden würde - hoffe ich einmal ;) - auch niemand auf die Idee kommen, Punkte zu vergeben.

Daraus ergeben sich viele bedenkliche bzw. unerfreuliche Konsequenzen, zum Beispiel die von "gekauften" Bewertungen (was mangels objektiver Messbarkeit normalerweise ja weder beweisbar noch widerlegbar ist). Oder dass sich die verschiedenen Weinguides mit den Punkten gegenseitig zu übertreffen versuchen, um Erzeuger und Handel zufriedenzustellen und damit den eigenen Einfluss zu erhöhen. Und wenn man einmal einen Wein eines prominenten Weinguts weniger gut bewertet, läuft man Gefahr, dass die Weine nicht mehr zur Verkostung angestellt werden und der Weinguide dann für die Zielgruppe an Attraktivität verliert.

Meiner Meinung nach haben die Weinguides aus diesen Gründen "ihre Unschuld verloren", ohne dass man einzelnen Beteiligten direkt einen Vorwurf machen könnte, schließlich muss fast jeder ja mit seiner Arbeit auch sich und seine Familie ernähren. Trotzdem glaube ich, dass die Bewertungen heutzutage für den Konsumenten nicht mehr so hilfreich sind, weder für den anspruchsvollen Weinfreund noch für den gelegentlichen Weintrinker - ganz abgesehen von der Tatsache, dass diese beiden Gruppen wohl ganz andere Erwartungen an einen "guten Wein" haben, was aber mit einer Punktezahl auch nicht ausgedrückt werden kann.

Grüße,
Gerald

Re: Grenzen der Weinkritik

Mo 19. Okt 2015, 15:14

Hallo Peter,

ich habe gerade das Buch "True Taste" von Matt Kramer bestellt, das sich genau mit dem hier angesprochenen Thema beschäftigt. Das kann ich dir ans Herz legen, ohne es gelesen zu haben (ist noch auf dem Weg).

Das Thema ist jedenfalls hochspannend, wurde zwar schon oft und ausgiebig diskutiert, aber die Entwicklung ist rasant und durch Instagram, etc. kommen neue Aspekte hinzu. Ein paar Gedanken von mir in Kürze.

Re: Grenzen der Weinkritik

Mo 19. Okt 2015, 21:36

Die Frage ist doch: Muss ich mir als Weinkonsument über diese Fragen überhaupt Gedanken machen? Vielleicht bin ich mir selber unsicher, ob ich meinem Geschmack trauen kann. Letztendlich ist Wein zu genießen eine höchst individuelle Geschichte. Wenn für jemanden mit einem Wein für 1,99€ der Himmel offen steht - wer bin ich, ihm diese Erfahrung strittig zu machen? Zudem geht es beim Wein trinken eher um die Genussfähigkeit als die Frage ob man Weinerfahrung verbindlich definieren kann. Was hätte man durch diese Definition gewonnen? Jeder wird es anders empfinden. Was nutzen 100 Parker-Punkte wenn dieser Wein keinerlei Emotionen in einem selbst weckt? Das wäre rausgeschmissenes Geld. Man sollte zu seinem Geschmack und Empfindungen stehen, dann braucht man sich auch keinen Kopf zu machen ob man jetzt einen guten Wein trinkt, der von Kritikern gut bewertet wird. Das setzt natürlich voraus, dass ich in der heutigen Zeit überhaupt Muße habe, mich auf einem Wein mit all seinen Facetten und den hervorgerufenen Empfindungen einzulassen. Da war Hermann Hesse in höchstem Maße prophetisch wie er voraussagte, dass in Zukunft die Menschen in einer zunehmend technisierten Welt wohl seelisch u. sinnlich so verkümmern werden, dass Dichter hoch bezahlt werden, damit sie den Menschen die einfache Schönheit einer Blume erklären. Dafür ob ich einen Wein toll finde braucht es für viele Menschen wohl heute die Weinkritiker.
Gleichwohl finde ich Weinbewertungen und -Notizen von Weinkritikern mit umfangreicher Erfahrung u. Wissen interessant, da sie mir zum Teil neue Aspekte des Genusses und Wissen über Wein nahebringen. Ähnlich ist es ja mit der Kunst-, Film- u. Literaturkritik. Deren Erkenntnisse kann ich mich bedienen, muss es aber nicht.

Problematisch wird es für mich, wenn sich die professionellen Weinkritiker u. -journalisten u. -blogger in ihren akademischen Elfenbeinturm zurückziehen und von dort aus dem Volk huldvoll mitteilen welcher Wein nun gut oder schlecht ist. Und das Volk hat ja eh keine Ahnung. Aber das ist vielleicht auch eine schon ältere Generation von Weinkritikern, die gewohnt waren, dass das Volk ihnen gehorsam folgt (und ihnen auch willig folgte, denn sonst hätte es diese Art von Herrschern ja nicht gegeben). Ich denke, dass es heute in der Weinjournalistenszene schon pluralistischer u. demokratischer zugeht. Die alten Könige mit Ihrem Hofstaat sind nicht mehr, da sich die Weintrinker emanzipiert haben und keine Könige mehr brauchen. Ich sehe die Weinkritiker heute eher mehr als Dienstleister u. Entertainer als Herrscher über den Wein. Und das ist gut so.

Detlef

Re: Grenzen der Weinkritik

Di 20. Okt 2015, 06:01

"Entertainer des Weins", diesen Begriff und Gedanke finde ich wunderschön. Ich werde heute im Rebberg in der Bündner Herrschaft (letzte Tage der Traubenernte) darüber sinnieren (da habe ich ja Zeit und Musse) und vielleicht den Gedanken noch etwas weiter führen. Ganz herzlich sammlerfreak
2882

Re: Grenzen der Weinkritik

Di 20. Okt 2015, 19:06

Ich kann der Weinkritik und ihrer Grundlage, dem Geschmack, ehrlich gesagt mittlerweile nicht mehr mit dieser Ernsthaftigkeit begegnen. Für mich bedeutet "Weinkritik" nur noch Dreierlei: Zum einen bietet sie mir Kauftipps, aber eigentlich nur noch von den "Laien" hier aus dem Forum. Punkte finde ich dabei (aber das kann man natürlich ausführlich diskutieren) als sehr hilfreich, weil sie etwas greifbar machen, was die meisten Verbalisierungen (auch meine eigenen nicht) nicht zum Ausdruck bringen. Es gibt aber Ausnahmem, stellvertretend möchte ich marzemino nennen, dessen sprachliche Fähigkeiten mich schon oft fasziniert haben. Daneben ist sie für mich einfach eine Form der Unterhaltung. Ich lese Vkns gerne, weil sie mich vom Alltag ablenken, kleine Fluchten ermöglichen, sie sind "weltfern", "romantisieren" den Alltag. Zum Dritten, und das ist mit Vorherigem verbunden, erlauben mir gut geschriebene Vkns das Nachfühlen, die Antizipation, sie versetzen mich in eine Stimmung der Innerlichkeit, die ich sehr schätze.
Aber ernst nehmen, mit ihr etwas Objektives verbinden, das kann ich die Weinkritik nicht. Und ich behaupte, jeder, der selbst Vkns schreibt, weiß darum, dass diese nur Momentaufnahen sind. Viel interessanter fände ich, wenn Verkoster aus den oben genannten Gründen alternative Formen der Weinbeschreibung erproben würden, z.B Wein wie Menschen zu charakterisieren, Analogien aus Kunat oder Musik zu suchen, etc...

Re: Grenzen der Weinkritik

Di 20. Okt 2015, 20:31

Michl hat geschrieben: Und ich behaupte, jeder, der selbst Vkns schreibt, weiß darum, dass diese nur Momentaufnahen sind.

Daran hätte ich allerdings meine Zweifel.
Michl hat geschrieben: Viel interessanter fände ich, wenn Verkoster aus den oben genannten Gründen alternative Formen der Weinbeschreibung erproben würden, z.B Wein wie Menschen zu charakterisieren, Analogien aus Kunat oder Musik zu suchen, etc...

Das wundert mich eh, dass vom klassischen Schema von Verkostungsnotizen nicht einmal diejenigen abweichen, die für sich in Anspruch nehmen, die klassische Weinbeschreibung hinter sich gelassen zu haben. Da werden dann Fruchtbeschreibungen durch Plastikspielzeug, Eisenbahnschienen und andere Begriffe ersetzt, aber am Ende bleibt die Notiz im Grundaufbau schon klassisch. Am spannendsten fände ich mal eine bewusst rigoros reduzierte Art der Beschreibung, z.B. mit max. vier Wörtern, die dann die treffendsten sind. Ich könnte das nicht, aber es wäre mal spannend zu lesen.

Re: Grenzen der Weinkritik

Di 20. Okt 2015, 20:53

Hallo zusammen,
Schon vor talk-about-wine trank ich gern Wein. Aber die gelegentliche Teilnahme an den Forum-Diskussionen, meine kurzen Verkostunsgnotizen und das aktive Mitlesen haben mein Verhältnis zu Wein schon verändert, und das verdanke ich Herrn Scheuermann. Es ist doch einfach nicht das Gleiche, wenn ich einen Wein bei Freunden trinke oder wenn ich mir dazu eine Notiz zu schreiben versuche und ihn ganz bewusst schlürfe. Selbst wenn ich schlussendlich Punkte vergebe, versuche ich nur den Wein in all seinen Facetten zu bewerten. Es ist mir klar, dass ich kaum objektive Bewertungen schreiben kann, dass viele äussere Einflüsse auf mich einwirken. Aber auch unter Laborbedingungen kann beschissen werden ;) Weinbewertung für den Alltagsverkehr ist also doch nicht so schlecht :D Ausserdem entschleunigt das bewusste Trinken, ein positiver Nebeneffekt auf meinen Weinkosum.
Und die VKN der Profis dienen mir als Hinweis. Manchmal lese ich lieber aber etwas über das Weingut, den Keller, die Weinzubereitung, kommt ganz auf den Schreibenden an. Je länger ich mich mit Wein beschäftige, desdo grösser ist das Bedürfnis, sich auch mit dem Winzer zu "identifizieren" oder zumindest mit seinem Qualitätsbewusstsein.
Grüsse, Sacha
Zuletzt geändert von Zürcher am Mi 21. Okt 2015, 07:29, insgesamt 1-mal geändert.

Re: Grenzen der Weinkritik

Mi 21. Okt 2015, 07:03

octopussy hat geschrieben:Das wundert mich eh, dass vom klassischen Schema von Verkostungsnotizen nicht einmal diejenigen abweichen, die für sich in Anspruch nehmen, die klassische Weinbeschreibung hinter sich gelassen zu haben. Da werden dann Fruchtbeschreibungen durch Plastikspielzeug, Eisenbahnschienen und andere Begriffe ersetzt, aber am Ende bleibt die Notiz im Grundaufbau schon klassisch.


Stephan, ich würde mir gar nicht wünschen, dass das eine durch das andere ersetzt wird. Aussagen zu Säure, Tannin, etc. sind für mich als Leser von VKNs schon wichtig. Ich kann mir nur gut vorstellen, dass alternative Weinbeschreibungen die VKN sehr wohl bereichern können. Bei meinen VKNs versuche ich das ab und an im Schlussteil, wobei ich häufig auch nicht zufrieden bin. Das liegt aber primär am sprachlichen (Un)Vermögen und den Grenzen der eigenen Assoziationsfähigkeit. Ich lese aber gerade bei anderen VKNs enstsprechende Passagen am liebesten. Und das Nachspüren, was mit "Plastikspielzeug" oder "Eisenbahnschienen" gemeint sein könnte, stellt für mich eher einen Reiz als Anlass zur Kritik dar. Natürlich steigert das die Interpretationsbedürftigkeit von VKNs und die Unverbindlichkeit , andererseits aber auch den Unterhaltungswert. Als ausgleichendes Element können ja die Punkte dienen - vielleicht ist das sogar ein weiteres Argument für Punkte.

Re: Grenzen der Weinkritik

Mi 21. Okt 2015, 07:06

Und übrigens:

octopussy hat geschrieben:Am spannendsten fände ich mal eine bewusst rigoros reduzierte Art der Beschreibung, z.B. mit max. vier Wörtern, die dann die treffendsten sind. Ich könnte das nicht, aber es wäre mal spannend zu lesen.


Interessanter Vorschlag. Ich habe auch meine Zweifel, dass mir das gelänge. Aber vielleicht versuchen wir es einfach mal im Schlussteil unserer VKNs.
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