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Rettet den restsüßen Spätburgunder Prädikatswein!

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AH.

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Re: Rettet den restsüßen Spätburgunder Prädikatswein!

BeitragSa 6. Sep 2014, 19:23

Hallo Bernhard,

ich habe Dich bisher immer als kompetenten und seriösen Diskussionspartner geschätzt, bin aufgrund Deiner nachfolgenden Äußerungen jedoch enttäuscht von Dir und will auch begründen warum.

Etwas schwierig wird es allerdings für mich, wenn aus den eigenen - in diesem Fall offensichtlich sehr speziellen, denn sonst würde diese Art von Wein wohl nicht vom Aussterben bedroht sein - Geschmacksvorlieben Schlüsse für die Allgemeinheit gezogen werden: "...da Alkohol ein brennendes Mundgefühl verursacht (unangenehm) und bitter schmeckt (widerlich). Anreicherung ist für Feinschmecker also kontraproduktiv! .. Die Erzeuger von sogenannten "Spitzenweinen" wollen auch in kühleren Jahren alkoholstarke, brandige und bittere Weine an ihre Kundschaft verkaufen..."

Und gar nicht vertragen kann ich es, wenn man in offensichtlicher Unkenntnis der Materie Pauschalaussagen wie solche und ähnliche trifft: "QbA ist potentiell immer minderwertig, da angereichert - sonst würde der Wein nicht als QbA vermarktet, in aller Regel."


Das Alkohol ein brennendes Mundgefühl verursacht und bitter schmeckt ist nach meiner Kenntnis in der Sensorik unbestritten - es gibt aber Ausnahmen. Ich bitte hierzu die Veröffentlichungen von Linda Bartoshuk zu lesen, die die Menschen anhand eines bitter schmeckenden Modellmoleküls in Nichtschmecker, Schmecker und Superschmecker differenziert. Sie legt sogar dar, daß das Risiko, zum Alkohliker zu werden, für Nichtschmecker signifikant höher sei. Nichtschmecker empfinden Alkohol nach meiner Erinnerung an die Publikationen von Frau Bartoshuk sogar als süß.

Ich habe daher ganz explizit geschrieben, daß die Anreicherung für Feinschmecker kontraproduktiv ist. Nichtschmecker sind nach meiner Ansicht eben das Gegenteil von Feinschmeckern. Mit Feinschmeckern verbinde ich von der physiologischen Seite her Schmecker und vor allem Superschmecker.

Der zweite Punkt, der neben der sehr unterschiedlichen sensorischen Empfindsamkeit von Menschen angesprochen werden muß, ist der sogenannte "aquired taste". Der Mensch ist in der Lage, biologisch als negativ bewertete Sinneseindrücke (Bitterkeit, das Brennen von Alkohol, den Geruch von Surströmming, eine Fisch"spezialität" http://de.wikipedia.org/wiki/Surstr%C3%B6mming) als positiv umzulernen oder sich zumindest daran zu gewöhnen, siehe z. B. http://en.wikipedia.org/wiki/Acquired_taste

Meine Sensorik ist nach meiner Beobachtung seit meiner Jugend stabil. Da ich Kaffee aufgrund seiner Bitterkeit widerlich finde (auch Bitterschokolade, am liebsten mag ich weiße Schokolade, z.B. die herrlichen Trüffel aus weißer Schokolade mit Haselnüssen aus dem Piemont), bin ich vermutlich ein Schmecker oder Superschmecker. Wer Kaffee oder Bitterschokolade mag, ist entweder Nichtschmecker oder hat einen "acquired taste", nach meiner Einschätzung.

Nun kommt der nächste Schritt: Ich habe systematisch hoch bewertete Weine, z.B. aus dem Gault Millau oder von Robert Parker probiert. Die finde ich meist widerlich, ekelhaft oder abscheulich. Ich kann auch immer genau sagen, woran es liegt: Sie sind brandig oder bitter. Troplong Mondot 2001 ist z. B. vor mir ekelerregend, Bernhard Hubers Spätburgunder Reserve oder alte Reben 1998 auch. So komme ich zu dem Schluß, daß Weinkritiker häufig entweder Nichtschmecker sind oder über einen "aquired taste" verfügen, sich also ihren Geschmack - bewußt wertend formuliert - verdorben haben. Dies betrifft nach meiner Einschätzung auch viele Wein"kenner".

Daher bleibe ich bei meiner Formulierung, daß die Anreicherung für Feinschmecker kontraproduktiv ist. Meine sensorischen Erfahrungen sind an Kindern bestätigt, die noch keinen "acquired taste" haben. Was mir schmeckt, schmeckt oft auch Kindern, die noch einen zuverlässigen biologischen Geschmack haben. Auch Nichtweinkennern kann ich oft köstlich schmeckende Weine empfehlen.

Liebe Grüße,

Andreas

P.S. Das ich keine Ahnung habe, wir mir ein Diskutant vorgeworfen hat, mag sein. Immerhin bin ich Chemiker und habe in meiner Promotionszeit einige wissenschaftliche Publikationen über Weinwissenschaft und Sensorik gelesen, die ich an mir bestätigen konnte.
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Ollie

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Re: Rettet den restsüßen Spätburgunder Prädikatswein!

BeitragSa 6. Sep 2014, 20:02

Andreas,

aus dem Umstand, dass du Sachen widerlich findest, kannst du nicht sauber schliessen, du seiest besonders empfindlich, mithin ein Superschmecker; letzteres kann ja durchaus sein, ergibt sich aber halt nicht aus ersterem. Das einzige, was du mit Sicherheit sagen kannst, ist, dass du den "taste" offenbar niemals "acquired" hast - das ist ein sozialer Aspekt vielleicht (waere ich wertend, wuerde ich sagen: ein soziales Defizit), aber kein zwangslaeufig sensorischer im engeren Sinne.

Lusterzeugende Rauschmittel (samt sozialer Komponente) sind nichts fuer Kinder. Es ist voellig legitim, dass dir "Erwachsenen-Sachen" nicht schmecken, wenn du darauf bestehst, mit einem "Kindergeschmack" an sie heranzugehen; aber wieso das dann eine Unzulaenglichkeit besagter Sachen sein soll, ist mir nicht ganz einsichtig. "Puderzucker ist das schlechtere Koks" waere umgekehrt ja auch eine etwas inkonsequente Haltung...

Cheers,
Ollie

PS: Der Kniff mit dem "Fein"schmecker ist uebrigens eine rhetorische Schwalbe; dafuer gibt's gelb. Das kannst du sonst besser. Bei der "MInderwertigkeit von QbA" bzw. "von angereichertem Wein" geht es um eine nur durch Meinung gestuetzte Wertung, also sind starke und allgemeingueltig gehaltene Aussage wie die deine nicht angebracht. Darauf bezog sich Bernhard.
Parfois, quand c'est trop minéral, on s'emmerde.
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Blaufränkisch

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Re: Rettet den restsüßen Spätburgunder Prädikatswein!

BeitragSa 6. Sep 2014, 20:12

Hallo Andreas,

ich sehe leider keinerlei Widerspruch zwischen meinen Äußerungen und meiner sonstigen "kompetenten und seriösen" Auftrittsweise als Diskussionspartner. Allerdings sehe ich meine Meinung, dass du einen recht speziellen Geschmack hast durchaus bestätigt.

Mag sein, dass ich nach der Definition von Frau Bartoshuk kein Feinschmecker, sondern nur ein Schmecker oder gar ein Nichtschmecker bin, aber meine weinsensorischen Fähigkeiten sind durchaus brauchbar, wage ich zu behaupten.

Ich verstehe den Begriff Feinschmecker denn auch weniger akademisch, sondern eher umgangssprachlich. Die Feinschmecker die ich meine und zu denen ich mich durchaus zähle zeichnet die Fähigkeit aus, seinen Geschmackssinn in allen Bereichen zu erweitern. Nicht alles was man an nicht angeborenen Geschmäckern kennenlernt muß einem schmecken, aber ich halte es für spannend und wichtig, sich damit auseinanderzusetzen. Das hat nichts mit "sich den Geschmackssinn verderben" zu tun, sondern ist meiner Meinung nach eine extrem wichtige intellektuelle Fähigkeit, die den Menschen nicht nur beim Essen und Trinken auszeichnet. Ich fände es ehrlich gesagt extrem erschreckend, wenn meine Sensorik seit meiner Jugend stabil geblieben wäre.

Wenn ich mir die Bewertungen und Preise der von dir zitierten Weine anschaue, liegt allerdings der Schluß nahe, dass die Leute mit dem von dir so bezeichneten "verdorbenen" Geschmack ein wenig in der Überzahl sind. Und noch schlimmer: Sie empfinden Freude und Genuss, wenn sie diese widerlichen, ekelhaften und abscheulichen Weine verkosten und trinken.

Bleibt dir nur die Freude am Wissen, dass du noch einen zuverlässigen biologischen Geschmack hast. Sie sei dir vergönnt und die Alkopops auf Traubenbasis (bewußt wertend formuliert ;) ).

Grüße

Bernhard
Hier gibts mehr von mir zu lesen: www.bernhard-fiedler.at
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AH.

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Re: Rettet den restsüßen Spätburgunder Prädikatswein!

BeitragSa 6. Sep 2014, 20:24

Hallo Ollie,

wenig an Deinem Beitrag hält einer logischen Prüfung stand. Ich gehe auf Deine Argumente ein:

Du hast geschrieben:

aus dem Umstand, dass du Sachen widerlich findest, kannst du nicht sauber schliessen, du seiest besonders empfindlich, mithin ein Superschmecker

Ich habe geschrieben:

Da ich Kaffee aufgrund seiner Bitterkeit widerlich finde (auch Bitterschokolade, ...), bin ich vermutlich ein Schmecker oder Superschmecker.

Ich habe also nicht "sauber geschlossen", wie von Dir unterstellt, sondern vermutet. Dafür gibt es von mir rot aufgrund falscher Unterstellung.

Du hast geschrieben:

dass du den "taste" offenbar niemals "acquired" hast - das ist ein sozialer Aspekt vielleicht (waere ich wertend, wuerde ich sagen: ein soziales Defizit), aber kein zwangslaeufig sensorischer im engeren Sinne.

Nach meiner Einschätzung ist "acquired taste" durchaus auch ein sensorischer Aspekt, denn derjenige, der ihn besitzt, hat sich an Sinneseindrücke gewöhnt oder sie sogar als positiv umgelernt. Er mag das wirklich, er kann sich auf seinen Geschmack nicht mehr wirklich verlassen. Wie man das wertet, als "soziales Defizit" (das schreibst Du) oder als "hat sich seinen Geschmack verdorben (das meine ich) ist eine Definitionsfrage, die ich jedem selbst überlassen will.

Du hast geschrieben:

"Es ist voellig legitim, dass dir "Erwachsenen-Sachen" nicht schmecken, wenn du darauf bestehst, mit einem "Kindergeschmack" an sie heranzugehen; aber wieso das dann eine Unzulaenglichkeit besagter Sachen sein soll, ist mir nicht ganz einsichtig"

Nur für mich ist es eine Unzulänglichkeit, man kann das aber anders definieren: Ich habe in meiner Argumentation stillschweigend vorausgesetzt, daß Feinschmecker Personen sind, die nicht über einen acquired taste verfügen und die keine Nichtschmecker im biologischen Sinne sind. Natürlich kann man den Begriff Feinschmecker auch anders definieren, meine Definition erscheint mir jedoch nachvollziehbar und plausibel. Ob z.B. Robert Parker nun ein Nichtschmecker ist (der wissenschaftlich korrekte Begriff, man kann natürlich auch einen von der Wissenschaft als Nichtschmecker bezeichneten zu einem "Feinschmecker" umdefinieren ;) ) oder einen acquired taste hat, weiß ich nicht.

Liebe Grüße

Andreas
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MichaelWagner

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Re: Rettet den restsüßen Spätburgunder Prädikatswein!

BeitragSa 6. Sep 2014, 22:35

Geschmäcker sind verschieden, da kann man herrlich streiten oder philosophieren warum da so ist.

Was ich nicht verstehe: du sagst Alkohol schmeckt bitter, deswegen unbedingt süße Weine trinken. Das Ding ist nur: auch der süße Wein hat Alkohol und Süße federt Bitterkeit nicht ab. Es schmeckt dann lediglich bittersüß, aber nicht "nicht-bitter" - es gibt keinen Gegenspieler für bitter.

Ergo dürfte dir Wein (oder alkoholische Getränke) generell nicht schmecken...egal ob gesüßt, angereichert oder whatever...
wenns läuft, dann läufts. Aber bis es läuft, dauerts...
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AH.

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Re: Rettet den restsüßen Spätburgunder Prädikatswein!

BeitragSa 6. Sep 2014, 22:49

Was ich nicht verstehe: du sagst Alkohol schmeckt bitter, deswegen unbedingt süße Weine trinken. Das Ding ist nur: auch der süße Wein hat Alkohol und Süße federt Bitterkeit nicht ab. Es schmeckt dann lediglich bittersüß, aber nicht "nicht-bitter" - es gibt keinen Gegenspieler für bitter.

Hallo Michael,

das habe ich auch nicht behauptet. Bei mir ist es so, daß ein typischer restsüßer Mosel-Riesling (Spätlese) mit 7,5 vol% Alkohol nicht mehr bitter schmeckt, offenbar maskiert die Süße dann die Bitterkeit hinreichend. Nach der sensorischen Lehrmeinung maskiert Süße nämlich Bitterkeit. Das gilt auch für Clairette de Die (8 vol% Alkohol), den ich gerade in einem anderen Forum beschrieben habe: http://forum.weinfreaks.de/showthread.php?tid=1956
Ein restsüßer Moselriesling mit 9 vol% schmeckt mir schon alkoholisch-bitter. Also ca. 7,5 vol% ist bei mir bei typischen nicht angereicherten restsüßen Weinen mit normalem Mostgewicht die Obergrenze für wohlschmeckend. Und an der Mosel wird häufig bei 7,5 vol% gestoppt. Vielleicht bin ich gar nicht so unnormal ;)
Bei restsüßen Spätburgundern aus offener Maischegärung (Bernhards Kritik, daß Süßreserve entstellend ist, kann ich gar nicht nachvollziehen, der hier diskutierte Wein ist absolut arteigen (sortentypisch) und reintönig) dürfte allerdings eine Begrenzung existieren, da die Süßreserve wohl nicht genug Anthocyane enthält, so dass der Wein zu hell würde, wenn man ihn auf 7,5 vol% einstellt (deswegen habe ich auch geschrieben, daß mir der Wein mit 9 vol% besser gefallen hätte, es gibt gelungene Beispiele, z.B. die überaus köstliche Spätburgunder Beerenauslese 2003 vom Weingut Zenzen, die wohl leider ausverkauft ist - ohne merkbare Botrytis, mit korrektem Spätburgunder Sortenbukett, vermutlich rosiniert http://www.weingut-zenzen.de/). Ich habe aber schon Ideen, wie man die Süßreserve ausreichend anthocyanreich hinbekommen könnte.

Liebe Grüße

Andreas
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AH.

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Re: Rettet den restsüßen Spätburgunder Prädikatswein!

BeitragSa 6. Sep 2014, 23:49

Hallo,

noch eine Ergänzung: Den hier vorgestellten Spätburgunder sollte man m.E. eher kühl (ca. 17 °C) trinken, da er sonst zu alkoholisch wirkt.
Generell trinke ich Weine (auch trockene Weißweine) nicht unterhalb ca. 15 °C, was dazu beiträgt, daß ich alkoholarme vorziehe. Der trigeminale Kältereiz von kühlen Getränken sagt mir nämlich wenig zu.

Liebe Grüße

Andreas
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Kle

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Re: Rettet den restsüßen Spätburgunder Prädikatswein!

BeitragSo 7. Sep 2014, 19:07

Vielen Dank an alle Beteiligten für die lehrreichen Diskussionen über die Herstellung süßlicher Rotweine. Lange habe ich nicht mehr so gefesselt an einem thread gehangen.
Die darauf folgenden eher originell-spekulativen Gedanken geben immerhin zu denken…
AH. hat geschrieben:Du hast geschrieben:

dass du den "taste" offenbar niemals "acquired" hast - das ist ein sozialer Aspekt vielleicht (waere ich wertend, wuerde ich sagen: ein soziales Defizit), aber kein zwangslaeufig sensorischer im engeren Sinne.

Nach meiner Einschätzung ist "acquired taste" durchaus auch ein sensorischer Aspekt, denn derjenige, der ihn besitzt, hat sich an Sinneseindrücke gewöhnt oder sie sogar als positiv umgelernt. Er mag das wirklich, er kann sich auf seinen Geschmack nicht mehr wirklich verlassen. Wie man das wertet, als "soziales Defizit" (das schreibst Du) oder als "hat sich seinen Geschmack verdorben (das meine ich) ist eine Definitionsfrage, die ich jedem selbst überlassen will.


Ich habe den Satz über das soziale Defizit ehrlich gesagt auf Genießer mit „Kindergeschmack“ bezogen. Falls sich die schmeckende Menschheit in nur drei Gruppen einteilen ließe, dann müsste es dafür doch evolutionäre und kulturtechnisch sinnvolle Beweggründe geben. Wenn die Nichtschmecker und die acquired Schmecker ungewöhnliche Aromen akzeptieren, müsste die Bandbreite der konsumierbaren Lebensmittel und Genüsse für sie erheblich größer sein als für die Superschmecker. Sie wären eher befähigt, in Hungersnöten, für sie fremden Umgebungen oder Kulturen zu existieren als Menschen mit „Kindergeschmack". Somit würde es auch nicht wundern, wenn Profiverkoster zu dieser Spezies gehörten, da sie nur dann die Fähigkeit besitzen, sich auf eine große Vielzahl unterschiedlicher Weinstile emphatisch einzulassen. In gewisser Weise sorgten die Nichtschmecker und die acquired Schmecker somit für die riesige Vielfalt auf dem Weinmarkt. Ähnlich wie Menschen, die Laute und Schriftzeichen lernen, die der eigenen Sprache unbekannt sind, kulturellen Austausch befördern.
Wer nicht schmeckt, muss sich weiterbilden: Die Theorie würde zwar erklären, warum manche Menschen auf kindlich geprägten Geschmacksvorlieben fest beharren, während andere abenteuerlustig sind, doch mir fehlt der Glaube.
Abgesehen davon, dass ich einen solchen Satz
Der Mensch ist in der Lage, biologisch als negativ bewertete Sinneseindrücke (Bitterkeit, das Brennen von Alkohol, den Geruch von Surströmming, eine Fisch"spezialität"
http://de.wikipedia.org/wiki/Surstr%C3%B6mming) als positiv umzulernen oder sich zumindest daran zu gewöhnen, siehe z. B. http://en.wikipedia.org/wiki/Acquired_taste

fragwürdig finde, erscheint mir schon der Begriff „bitter“ als eine zu allgemeine Konstruktion und berücksichtigt nicht, dass Aromen nuanciert und im Kontext wahrgenommen werden. Wie kommt es z.B. dazu, dass oxydative Noten mal als altersbedingter Mangel, mal als geschmacklich reizvoll bewertet werden? Hier muss doch eine sensorische Urteilskraft am Wirken sein, die weit über passive Wahrnehmungsschemata hinausgeht.

Gruß, Kle
—People may laugh as they will—but the case was this.
Tristram Shandy
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AH.

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Re: Rettet den restsüßen Spätburgunder Prädikatswein!

BeitragSo 7. Sep 2014, 19:33

Wenn die Nichtschmecker und die acquired Schmecker ungewöhnliche Aromen akzeptieren, müsste die Bandbreite der konsumierbaren Lebensmittel und Genüsse für sie erheblich größer sein als für die Superschmecker. Sie wären eher befähigt, in Hungersnöten, für sie fremden Umgebungen oder Kulturen zu existieren als Menschen mit „Kindergeschmack".

Hallo Kle,

nach meiner Vermutung schützt der angeboren Widerwillen gegen einige Aromen vor giftigen Nahrungsmitteln. Bittere oder adstringierende Früchte sind z.B. unreif und ggf. giftig. Gerade Kinder sind nach meiner Kenntnis noch empfindlicher, als Erwachsene und daher noch besser geschützt. Ein fauliger Schwefelwasserstoffgeruch beschützt uns z.B. vor verdorbenen Nahrungsmitteln - daher mag ich auch keinen Schwefelwasserstoffböckser im Mosel-Riesling, abgesehen davon ist H2S auch giftig.
Ich folge Deiner Argumentation, daß "acquired taste" für Erwachsene unter Nahrungs-Mangelbedingungen ein evolutionärer Vorteil sein kann.

Wer sich seinen Geschmack, wie ich meine, verdirbt ("acquired taste"), kann sich nicht mehr auf seinen Geschmack verlassen. Er ist kein zuverlässiger Sensoriker mehr. Sein Geschmack ist relativ geworden, abhängig von seinem Konsum. Der Mensch gewöhnt sich eben an fast alles. Ob das noch ein Wein"kritiker" sein kann, bezweifele ich sehr.

Wenn ich Troplong Mondot 2001 probiere, dann will ich mich an etwas derartig widerliches auch gar nicht gewöhnen. Nach einigen Flaschen würde ich ihn wohl lieber mögen. Das lehne ich ab.

Was köstlich ist, nehme ich an, was widerlich ist, lehne ich strikt ab - dabei vertraue ich auf meinen biologischen Geschmack. Der daraus resultierende Genuß im Leben ist sehr hoch nach meiner Erfahrung.

Die von Dir angesprochenen Oxidationsnoten haben mit Bitterkeit nichts zu tun. Ich mag sie weniger, aber ich akzeptiere sie auch in einigen Weinen. Domaine Geneletti 2000 (vin jaune) fand ich z.B. fein und auch den Heida 2006 von der cave d´l Angelus (Wallis, http://www.angelus-wine.ch/) schätze ich sehr, wobei mir der 1992er ohne oxidative Noten noch mehr gefallen hat.

Liebe Grüße

Andreas
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Gerald

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Re: Rettet den restsüßen Spätburgunder Prädikatswein!

BeitragMo 8. Sep 2014, 07:07

Hallo,

toller, spannender Thread. Persönlich habe ich noch nie einen restsüßen Pinot noir probiert, bin aber - von der reinen Vorstellung her - sehr skeptisch, dass mir so etwas zusagen würde.

Aber generell scheinen mir auch einige von Andreas' Argumenten ziemlich schwer nachvollziehbar:

Wenn Menschen, die z.B. Bitternoten stärker als andere wahrnehmen (die zitierten "Superschmecker"), solche Lebensmittel grundsätzlich meiden würden - warum werden dann bestimmte Lebensmittel mit absichtlich zugesetzten, intensiven Bitterstoffen (z.B. Bitterliköre oder Tonic water) überhaupt von irgendjemand konsumiert? Denn bei diesen Produkten sind die Bitternoten wohl von wirklich jedem wahrnehmbar, sonst hätte das Produkt ja gar keinen Sinn.

So gesehen ist es wohl logisch, dass es viele Menschen gibt, die zumindest in einem bestimmten geschmacklichen Kontext Bitternoten schätzen. Ich selbst nehme oft in Weinen Bitternoten wahr, die andere offenbar nicht schmecken (z.B. in veröffentlichten VKN anderer Autoren zum gleichen Wein). Das ist manchmal unangenehm, manchmal passen die Bittertöne aber sehr gut ins Gesamtbild, z.B. oft bei Grünem Veltliner.

Klar weisen Bitternoten an sich - durch die Evolution bedingt - auf ein potenziell giftiges Produkt hin (z.B. sind sehr viele Alkaloide stark bitter). Aber durch den erwähnte "acquired taste" kann man sich an ein solches Produkt gewöhnen und es sogar besonders schätzen. Ähnliches kommt ja auch bei der Schärfe von Chili vor (auch wenn physiologische Grundlage der Wahrnehmung ganz anders als bei den Bitternoten ist). Soweit ich weiß, soll die Schärfe von Chilis - die von Säugetieren wahrgenommen wird, nicht aber von Vögeln - die Verbreitung der Samen durch Vögel begünstigen, die für die Pflanze offenbar günstiger als durch Säugetiere ist.

Wer zum ersten Mal Chili probiert, wird es vermutlich als nicht sehr angenehm empfinden. Nach einiger Zeit aber schätzt man die eigentlich schmerzhafte Empfindung sehr und würzt sein Essen freiwillig damit. Da in vielen Ländern scharfe Speisen quasi der Normalfall sind, kann man kaum behaupten, dass der Genuss scharfer Lebensmittel nur eine kleine Gruppe von Menschen mit schwach ausgeprägtem Empfinden dafür betrifft. ;)

Und noch zum Wein: wenn man einen Wein mit - sagen wir - 13 Vol.% als sehr deutlich und unangenehm bitter empfindet, dann wird diese Empfindung bei 9 Vol.% etwas schwächer, aber noch immer sehr gut wahrnehmbar sein. Wenn man einen bitteren Aperitif mit etwas Mineralwasser verdünnt, schmeckt er ja auch noch immer bitter.

So gesehen dürfte Andreas überhaupt keinen Wein trinken, weder mit 7,5 noch mit 14 Vol.% Der Thread müsste dann heißen "rettet den Spätburgunder Traubenmost". ;)

Grüße,
Gerald
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