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"Problemfall" Blindverkostungen

Sterne, Punkte, Trauben - oder Obstkörbe
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Gerald

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"Problemfall" Blindverkostungen

BeitragMi 2. Mär 2011, 08:21

Nicht wenige von uns haben sich schon über die teilweise eigenartigen Ergebnisse bei Blindverkostungen gewundert, wo ein ansonsten hoch gelobter Wein quasi "abgestraft" oder sogar als fehlerhaft bezeichnet wurde. Das kann man eventuell noch auf Flaschenfehler (z.B. wegen schleichendem Kork) zurückführen. Weniger Erklärung gibt es, warum ein ansonsten eher unscheinbarer Wein bei einer weiteren Verkostung plötzlich als Sieger aufscheint.

Zufälligerweise habe ich gerade einen Artikel über die Psychologie der Partnerwahl gelesen, dessen Aussage aber meiner Meinung nach auch hier anwendbar ist. Denn Weinbewertung und Partnerwahl haben (zumindest) eines gemeinsam: es gibt keine objektiv messbaren Kriterien, warum man einen (Wein oder Partner) dem anderen vorzieht.

Die Psychologen meinen, dass eine zu große Auswahl die Psyche schlicht überfordert (vielleicht einfach, da der Mensch evolutionsbedingt nicht dafür ausgelegt ist, sich zwischen vielen Alternativen zu entscheiden). Wenn wir zwei Weine vor uns stehen haben, können wir uns meist klar entscheiden, welcher uns besser schmeckt. Aber wie das aussieht, wenn man 50 oder mehr Weine probiert? Punkte sind hier meiner Ansicht nach nur eine Art "Selbsttäuschung", die uns den Eindruck vermittelt, den Wein quasi objektiv zu bewerten. Aber sind die 90 Punkte des 45. Weins wirklich vergleichbar mit den 90 Punkten des ersten Weins? Oder haben die Weine davor die Latte für den 45. verändert, ohne dass es uns aufgefallen wäre?

Hier noch der Link zum Artikel auf orf.at: http://science.orf.at/stories/1677342/

Grüße,
Gerald

P.S. Das soll sicher kein Plädoyer gegen Blindverkostungen sein, im umgekehrten Fall (man weiß genau, welchen Wein man vor sich hat oder kennt zumindest das Weingut) kommt sicher ein anderer psychologischer Effekt zum Tragen, der angesehenen Weingütern ein paar "Extrapunkte" beschert oder dass man bei einem nicht so attraktiven Wein meint "braucht noch Zeit", während ein identischer Wein eines unbekannten Winzers punktemäßig abgestraft würde.
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Desmirail

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Re: "Problemfall" Blindverkostungen

BeitragMi 2. Mär 2011, 08:34

Aufgrund meiner beruflichen Tätigkeit bin ich mit diesen Eigenarten immer mal konfrontiert und kann das, was in dem Beitrag steht unterstützen und bejahen.

Ergänzen möchte ich allenfalls, das alles was wir wahrnehmen für andere immer subjektiv ist und für den Wahrnehmenden immer objektiv.
Möge man behaupten was man will :|

... und, dass die Menschen in der DDR früher die Wahl der Qual hatten, heute haben sie die Qual der Wahl. (<- ist nicht in irgendeiner Weise abwertend gemeint).
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thvins

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Re: "Problemfall" Blindverkostungen

BeitragMi 2. Mär 2011, 09:19

Hallo Gerald,

aus deinem PS heraus sprichst du genau das Plädoyer für Blindverkostungen aus. Das wiegt für mich auch den von dir geschilderten Nachteil auf, wenn man auf zwei Parameter achtet:
1. Nicht zu viele Weine anstellen. Proben mit 50 oder mehr Weinen sind da sicher "fehlerbehafteter" als welche mit nur 9 oder 15 Weinen.

2. Zeit lassen. 50 Weine in 2 Stunden sollten wohl zu verzerrteren Ergebnissen führen als 30 Weine in 12 Stunden.

Nur ist das Problem - es sind meistens zu viele Weine da, und die Zeit ist begrenzt und wohl bei den meisten von uns das rarste Gut. Weswegen "Zeit schenken" schon zum wertvollsten Geschenk wird.

Auch die von mir mit meinen Stamm-mitverkostern entwickelte Methode des doppelt blind seit einiger Zeit bei ernsthaften Proben ist durchaus keine schlechte Idee, denn in der zweiten Verkostung liegen die Weine oftmals nahe beieinander. Viele Weine bleiben konstant auf ihrem Niveau, etliche verbessern sich (bei Jungweinen, die viel Luft brauchen, gibt man den Spätstartern hier seine Chance, genau wie in einer folgenden Langzeitbeobachtung.

(junge)Weine, die bei der 2. Verkostung signifikant abfallen, waren entweder nix oder Blender oder man hat sie am ersten Tag vielleicht überhöht gesehen, weil ein Moment der Unkonzentriertheit vorhanden war.

Natürlich haben Unbekannte so die Chance, die ihnen auch zusteht und oft überzeugen bekannte Favoriten auch blind und über mehrere Verkostungsreihen (und bestätigen damit ihren Status). Aber halt nicht alle... - und manche Problemfälle hat man öfters, andere revidieren sich bei einer Nachverkostung einer 2. Flasche.

Gewiß, alles ist Psychologie. Blind wie Nicht-Blind. So wie man sich der Perfektion nur annähern kann, kann man auch Verkostungen nur so objektiv wie möglich machen. Und für mich bedeutet Blindverkostung auch Ausschalten von Reizen, die bewußt und unbewußt kommen, wenn man das Etikett sieht und um Renommée, Preis und vielleicht persönliche Bindungen weiß...

Wenn im Vorgang der Verkostung eines Flights Ruhe herrscht und man ausschließlich mit den Weinen kommuniziert und sich darauf konzentriert, was sie einem vermitteln - und sich die Verkoster nicht gegenseitig beeinflussen - dann passiert es ja auch häufig, dass sich die Runde in der Tendenz einig ist. Oder man weiß genau, Verkoster x mag den Wein aus Stilgründen nicht bzw. Verkoster y flippt genau deswegen bei dem Wein aus... Das weiß man dann meist schon ohne zu sprechen, wenn man im Stammteam zusammen sitzt. Aber auch "Themenlaien" oder mitunter sogar interessierte Neulinge finden interessanterweise oft gleich Reihenfolgen im Flight, auch wenn diese kompliziert sind, weil der Flight ein einheitliches Niveau hat, was bei einer ersten ernsthaften Blindrunde nicht immer automatisch gegeben sein sollte, sondern eher zufällig ist.

Also ich votiere nach wie vor "Pro Blind" und setze auf einen vernünftigen Rahmen, d.h. ausreichend Zeit und nicht zu viel an Weinen.

Was wäre objektiver im Sinne von Annäherung an die Objektivität? Welche Alternativen gibt es? Und welche Erfahrungswerte gibt es dazu...

Ich freu mich auf eine spannende Diskussion und die eine oder andere Anregung dazu, wie es noch besser ginge.

Gedanklich bin ich schon bei der nächsten Blindprobe...
Beste Grüße

Torsten

http://www.torsten-hammer-priorat-guide.com
jetzt mit richtiger Startseite...
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Desmirail

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Re: "Problemfall" Blindverkostungen

BeitragMi 2. Mär 2011, 09:35

Vielleicht noch das als Weiterführung ;)

Selbstzweifel

Blindverkoster sind auch nur Menschen
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hendrik

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Re: "Problemfall" Blindverkostungen

BeitragMi 2. Mär 2011, 09:41

Ich denke manche Leute sind beinflusbar bei eine Weinprobe von andere Teilnehmer.
So die Ideal probe ist : ganz allein in eine neutrale Raum
Dass macht aber kein Spass :mrgreen:

Hendrik

p.s. Torsten bis Freitag!
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Re: "Problemfall" Blindverkostungen

BeitragMi 2. Mär 2011, 09:51

Liebe Forianer!

Es gibt natürlich auch den Sündenfall bei Blindverkostungen, wo (nationale) Weinmarketinggesellschaften, welcher Provenienz immer, die teilnehmenden Weine so gruppieren, dass ein lokaler Wein der Verkostungssieger ist. Einige Beispiele der ÖWM fallen mir da schon ein :evil: .
MvG
(Mit vinophilen Grüssen)

Daniel
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Charlie

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Re: "Problemfall" Blindverkostungen

BeitragMi 2. Mär 2011, 10:02

Blindverkostungen sind lustig und manchmal lehrreich - für mich. Wenn aber Fachleute blind verkosten und auf diese Weise Weine beurteilen ist das schwer diskutabel.
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Trollmann

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Re: "Problemfall" Blindverkostungen

BeitragMi 2. Mär 2011, 10:31

Blindverkostungen machen in der Runde Spaß, wenn man es nicht sooo genau nimmt.
Zu viel Objektivität schaden der Geselligkeit und der Freude am Austausch.

Natürlich, wenn "was davon abhängt", also man beruflich verkostet, um Punkte zu veröffentlichen (z.B.), dann sollte man schon auf Objektivität achten.
Ansonsten müsste jede Meinungsäußerung vermieden werden, selbst das Minenspiel des Gegenübers darf nicht beachtet werden usw.

Grüße
Christian
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Desmirail

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Re: "Problemfall" Blindverkostungen

BeitragMi 2. Mär 2011, 10:41

Da fällt mir noch was ein, immer wieder gern gesehen ...

The unbelievable tasting

*ggg*
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sociando

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Re: "Problemfall" Blindverkostungen

BeitragDo 3. Mär 2011, 16:41

hallo gerald,

also ich weiss nicht. was hätte denn das argument mit der überforderung aufgrund zu hoher flaschenanzahl direkt mit blindproben zu tun. das würde doch auch auf andere grosse proben zutreffen. generell gibt es sicherlich eine art zunehmende unempfindlichkeit der sinnesorgane mit wachsener falschenanzahl (das was psychologen habituation bei der reizwahrnehmung nennen). ich glaube auch nicht, dass es bei blindproben immer um das finden eines "lieblings" geht - wie bei der partnerwahl - sondern dass es grundsätzlich technischer und nüchterner abläuft (solange man selbst noch recht nüchtern ist, versteht sich ;) ). das was dann rauskommt ist riech- und geschmackserlebnis pur - ohne weitere informationen über weingut und jahr und so weiter zu haben. genau das führt dann manchmal zu überraschenden ergebnissen, nichts anderes.

viele grüsse, martin
es lebe die freiheit! es lebe der wein!
(johann wolfgang von goethe, faust, auerbachs keller)
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