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Jahrgangsbewertungen

Sterne, Punkte, Trauben - oder Obstkörbe
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mixalhs

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Jahrgangsbewertungen

BeitragDi 23. Jun 2015, 11:10

Ein wenig wundere ich mich schon, dass es zu diesem Thema noch keinen Thread gibt. Also mache ich mal einen auf. Anlass ist, dass ich einen Jahrgang als "mittelmäßig" bezeichnet hatte und mir daraufhin jemand widersprach, es handele sich um einen guten Jahrgang. Über die wirkliche (???) Qualität des Jahrgangs gibt es wahrscheinlich gar keinen Dissens. Es handelt sich - wie so oft - eher um Uneinigkeit über Wortbedeutungen.

Mit "mittelmäßig" meine ich, dass der Jahrgang etwa im Durchschnitt der letzten 20 oder 30 Jahrgänge liegt, wohl wissend, dass andere die Kategorie "mittelmäßig" anders, nämlich als Euphemismus für "mäßig", "schlecht" oder gar "grottenschlecht" benutzen. Ich finde es immer wieder merkwürdig, welcher Sprachgebrauch sich hier durchgesetzt hat. Beispiel ist die Jahrgangstabelle von Vinum mit ca. 70 Regionen und 16 Jahrgängen, also etwa 1000 Bewertungen: http://www.vinum.ch/_data/pdf/Trinkreifetabelle_DCH.pdf . Von diesen lauten ca. 30 "mittelmäßig", vom Rest sind ca. 2/3 gut und 1/3 exzellent. Für mich ist das kein kritischer Umgang mit dem wetterabhängigen Produkt Wein, sondern Weinmarketing. Sicherlich handelt es sich hier um einen Extremfall, aber generell scheint es so, dass BewerterInnen von Weinjahrgängen das Wort "mittelmäßig" scheuen wie der Teufel das Weihwasser.

Realistischer ist Michael Broadbent, der in seinen Verkostungsnotizen die Jahrgangsbewertungen von einem bis zu fünf Sternen deutlich gleichmäßiger verteilt, allerdings nicht über 16 Jahre, sondern sehr viel längere Zeiträume. Sicher sind die Weine in den letzten zwei Jahrzehnten durch Klimawandel und verbesserte Techniken am Weinberg und im Keller tendenziell besser geworden, aber die meisten Jahrgangstabellen unternehmen ja gar keine Vergleiche mit den 1960er und 1970er Jahren. Für mich jedenfalls liegen Mittelmaß und Durchschnitt in der Mitte der jeweiligen Stichprobe.
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Gerald

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Re: Jahrgangsbewertungen

BeitragDi 23. Jun 2015, 11:24

Hallo Michael,

ich glaube, dieser Sprachgebrauch hat sich einfach mit der Punkteinflation bei den einzelnen Weinen mitentwickelt. So wie inzwischen bei gar nicht wenigen Weinmedien einfachste Weine schon über 90 Punkte standardmäßig bekommen, nennt man einen im Großen und Ganzen missratenen Jahrgang halt jetzt "gut" ("sehr gut" wäre dann Durchschnitt, alles andere ist ein Jahrhundertjahrgang :D ).

Bei den Bewertungen der Weine selbst hat sich ja eine Art Teufelskreis entwickelt. Wer bei der Punkteinflation nicht mitmacht, verärgert Winzer/Weinhändler, die dann keine Weine mehr einschicken.

Die Jahrgangsbewertungen müssen sich eigentlich zwangsläufig dieser Entwicklung anpassen, denn sonst wäre ein "schlechter Jahrgang", wo aber trotzdem alle einzelnen Weine weit über 90 Punkte bekommen, ja logisch inkonsistent.

Grüße,
Gerald
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weingeist

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Re: Jahrgangsbewertungen

BeitragDi 23. Jun 2015, 11:39

Gerald hat geschrieben:Die Jahrgangsbewertungen müssen sich eigentlich zwangsläufig dieser Entwicklung anpassen, denn sonst wäre ein "schlechter Jahrgang", wo aber trotzdem alle einzelnen Weine weit über 90 Punkte bekommen, ja logisch inkonsistent. Grüße, Gerald
Stimmt meiner Ansicht nach nicht ganz, jedenfalls wenn Du die Punktebewertung konsequent nur auf den jeweiligen Jahrgang reflektieren würdest.

Leider wird aber doch eher immer im "großen Vergleich" (der Wein und der Betrieb) bepunktet und es darf einfach nicht sein, was nicht sein kann, nämlich dass man die Punktewertungen generell einmal nach unten schrauben (der JG 2013 hätte sich da wohl gut dafür angeboten) und dann etwas weniger inflationär punkten würde.

Andererseits, nimmt die Punktewertungen überhaupt noch jemand wirklich ernst? Für mich sind kurze Beschreibungen jedenfalls wesentlich informativer, vor allem wenn ich vom "Verfasser" ein "Bild im Kopf" habe.
Liebe Grüße
weingeist
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EThC

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Re: Jahrgangsbewertungen

BeitragDi 23. Jun 2015, 12:15

Also meine Erfahrung ist ja eher die, daß man sich eigentlich getrost alle Jahrgangsbewertungen und Bepunktelungen gleichmäßig in die Haare schmieren kann. Z.B. weist die zitierte Vinum Tabelle das A-Jahr 2010 in D durchgehend als guten Jahrgang aus, bei CC differenziert die Tabelle zwischen sehr gut und ungenießbar (Ahr und Sachsen). Und ich habe doch tatsächlich erst kürzlich einen völlig ungenießbaren Wein getrunken:
https://ec1962.wordpress.com/2015/04/12/illusion/
Vergeßt die Tabellen und die Punkte! Es hilft nur eins: Probieren, probieren, probieren...
Viele Grüße
Erich

Nicht was lebendig, kraftvoll, sich verkündigt, ist das gefährlich Furchtbare. Das ganz Gemeine ist's
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Gerald

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Re: Jahrgangsbewertungen

BeitragDi 23. Jun 2015, 12:46

Andererseits, nimmt die Punktewertungen überhaupt noch jemand wirklich ernst?


Jahrgangsbewertungen sind meiner Ansicht nach noch um eine Stufe unseriöser (zumindest wenn sie auf ein Wort, eine Zahl oder ein paar Sterne etc. reduziert sind), da hier noch völlig undefiniert ist, wie die tausenden, völlig unterschiedlichen Weine des Jahrgangs zu einem einzigen Wert zusammengewürfelt werden.

Gibt eine Jahrgangsbewertung den Durchschnitt aller produzierten Weine wieder (auch solche, die man ohnehin niemals trinken würde)? Oder die Spitze? Oder die Basisqualitäten? Davon abhängig könnte z.B. der genannte Jahrgang 2010 in Österreich entweder schlecht, durchschnittlich oder aber sehr gut sein.

Und dazu kommt noch die allgemeine Charakteristik des Jahrgangs, deren Einschätzung einfach Geschmackssache ist. Mag man eher leichte, säurebetonte Weine oder aber alkoholreiche "Powerweine"? Wenn man das auf eine einzige Wertung reduziert, bringt man seine eigene Präferenzen damit ein, die andere nicht unbedingt teilen müssen.

Also meine Erfahrung ist ja eher die, daß man sich eigentlich getrost alle Jahrgangsbewertungen und Bepunktelungen gleichmäßig in die Haare schmieren kann.


Ja, so könnte man es eigentlich auch in kurzen Worten zusammenfassen. :D

Grüße,
Gerald
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olifant

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Re: Jahrgangsbewertungen

BeitragDi 23. Jun 2015, 13:10

mixalhs hat geschrieben:Ein wenig wundere ich mich schon, dass es zu diesem Thema noch keinen Thread gibt. Also mache ich mal einen auf. Anlass ist, dass ich einen Jahrgang als "mittelmäßig" bezeichnet hatte und mir daraufhin jemand widersprach, es handele sich um einen guten Jahrgang. Über die wirkliche (???) Qualität des Jahrgangs gibt es wahrscheinlich gar keinen Dissens. Es handelt sich - wie so oft - eher um Uneinigkeit über Wortbedeutungen.


Hallo Michael,

wie du schon vermutest, herrscht vermutlich kein Dissens - nur empfinde ich es tatsächlich so, dass in der Wein(marketing)sprache hinsichtlich der Jahrgänge 'mittelmäßig' eben effektiv der Euphemismus für 'schlecht' ist, und die Mehrzahl der Jahrgänge eben gut oder sehr gut/exzellent sind - ist eben so - und so verwende ich i.d.R. die Begriffe. Ich sehe dies nicht anders als Verklausulierungen in Arbeitszeugnissen ;)

Ob einem dann die Eigenschaften des Jahrgangs liegen oder nicht, ist nochmals eine ganz andere Sache.

Unzweifelhaft ist es ohnehin, dass auch in eher mittelmäßigen Jahren sehr gute Weine produziert werden, ebenso wie in exzellenten Jahren immer auch Schrott - ist eben so und da hilft nur eigenes verkosten.

P.S. Bei der Vinum wird der '98 für's Piemont als exzellent geführt ;)
Grüsse

Ralf

Die Zukunft war früher auch besser.
Karl Valentin
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Einzelflaschenfreund

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Re: Jahrgangsbewertungen

BeitragDi 23. Jun 2015, 13:41

Hi,

Jahrgangsbewertungen sind in den wenigsten Fällen hilfreich, weil sie kaum Anhaltspunkte zur Qualität eines bestimmten Weins liefern. Die Beschreibung eines JahrgangsCHARAKTERS ist da schon eine andere Sache (z. B. im Schnitt hohe Säure, häufige Fäulnisprobleme, Unreife etc.).

Allerdings denke ich, dass die Bedeutungsverschiebung des Begriffs "mittelmäßig" nicht auf Weinbewertungen beschränkt ist und nicht einer Skalaverschiebung nach oben angelastet werden kann.
So wie ja "zweitklassig" auch erst mal nicht wirklich übel ist (wenn man bedenkt, wie viele Ligen z. B. noch unterhalb der zweiten folgen oder auch, dass es früher in der Bahn oder auf Schiffen auch noch eine dritte oder sogar vierte Klasse gab), ist doch heute damit immer eine implizite Abwertung verbunden. So ist es eben auch mit "mittelmäßig", wobei die Abwertung hier nicht zuletzt vom "-mäßig" herrührt. "von mittlerer Güte" klingt schon nicht mehr so schlimm und ein "Mitteklassehotel" oder "Mittelklassewagen" ist auch nichts wirklich Übles (übrigens ganz interessant; bei Autos scheint mir die Skala eher nach unten verschoben zu sein - was da alles passieren muss, bevor man wirklich von "Oberklasse" spricht ...).

Viele Grüße
Guido
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mixalhs

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Re: Jahrgangsbewertungen

BeitragDi 23. Jun 2015, 15:53

Die Bewertungen älterer Jahrgänge von Michael Broadbent dagegen waren für mich immer sehr hilfreich, wenn ich solche Weine bei Ebay ersteigert habe.

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