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Verkostungsprofis - Generalisten vs. Spezialisten

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octopussy

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Verkostungsprofis - Generalisten vs. Spezialisten

BeitragMi 30. Nov 2011, 18:04

Hallo zusammen,

auf dem stets interessanten Dr. Vino Blog liest man derzeit über das Verkostungsprogramm von John Gilman (View from the Cellar) und Antonio Galloni (Parker) im Burgund. Das Programm klingt definitiv stramm, gerade wenn man zwischendurch noch Twittern muss ;) :? :mrgreen:. http://www.drvino.com/2011/11/29/burgun ... an-visits/

Zu dem Großes-Gewächs Verkostungsprogramm in Wiesbaden las man oft, dass das Programm mit um die 300 Weinen an 2 Tagen trotz perfekter Organisation allenfalls mit viel Disziplin und mit Arbeitsteilung zu schaffen war.

Wenn man die Tasting Notes von Jancis Robinson, Julia Harding, Richard Hemming und Tamlyn Currin zu den 2009er Burgundern liest, bekommt man den Eindruck, dass dort recht hastig ein Mammut-Programm abgespult wurde - for the sake of completeness. Beispiele?

"Rather basic and ordinary. Very open."
"Quite rich and heavy. Not bad but a bit foot dragging."
"A little soupy and very ripe. Flattering but without much structure."
"Sweet and simple and a bit fragile. Too sweet! "

Mir ist völlig klar, dass die Verkostungsprofis in einem Dilemma stecken. Die Leser erwarten einen umfassenden Verkostungsreport, der eigentlich nur dann vollständig geliefert werden kann, wenn man schnell ist. Auf der anderen Seite hat man so kaum Zeit, sich mit einzelnen Weinen auseinander zu setzen und z.B. bestimmte Weine noch einmal in einem anderen Kontext nachzuprobieren.

Auf der anderen Seite kriegt man bei einigen Spezialisten, z.B. Allen Meadows (Burghound) oder Jean Fisch und David Rayer (Mosel Fine Wines) den Eindruck, dass sie wegen ihres schmaleren Programms viel intensivere Gespräche mit den Winzern führen können und genauer verkosten können. Das Ergebnis merkt man den Tasting Notes m.E. auch (positiv) an.

Wird die Zeit der Generalisten, die laufend weltweit Verpflichtungen wahrnehmen müssen, bald zu Ende sein, zugunsten von Spezialisten, die sich intensiver um wenige Gebiete kümmern? Oder wird es auch weiterhin die berühmten Generalisten (Parker, Robinson, H. Johnson, S. Tanzer, usw.) geben, die letztlich von allem etwas probieren, auch wenn das zulasten der Genauigkeit und des Details geht?

Und was sind eigentlich die Ergebnisse solcher "Turbo-Verkostungen" wert? Ich sehe diese ehrlich gesagt immer kritischer.
Beste Grüße, Stephan
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susa

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Re: Verkostungsprofis - Generalisten vs. Spezialisten

BeitragDo 1. Dez 2011, 08:23

Ich denke, das ist ein Zeichen der Zeit, den Trend weg vom Generalismus hin zur Spezifizierung gibt es auf allen Gebieten. Ganz anderes Beispiel, ich hatte letzte Woche den Gärtner also den Garten- und Landschaftsbaufachbetrieb im Haus, der sollte ein paar alte Bäume ausgraben und die Laubbäume beschneiden. Und der Azubi erzählte mir, dass es nur beim Gartenbau alleine 9 verschiedene Ausbildungsberufe gibt, vier oder fünf verschiedene weiterführende Qualifikationen etc. Und da sind die Blumen noch nicht berücksichtigt.

Sicher kann sich der Spezialist viel intensiver dem Spezialgebiet widmen und dort detail- und kenntnisreicher wirken. Andererseits ist doch der Generalist viel besser in der Lage, ein Gesamtbild zu erkennen, übergreifende Trends und Tendenzen herauszuarbeiten.

Für meinen Geschmack muss es beide geben, der der mir mit großer Detailgenauigkeit das Wesen eines eng umrissenen Gebietes definiert und es bewertet und der, der aufgrund seiner Rundumsicht die Gebiete alle (oder sehr viele) in ihrer Wirkung unter- und miteinander vergleicht, bewertet und verkünpft.

Eine Tendenz zu immer mehr Spezialisierung sehe ich (nicht nur in der Weinkritik) sehr kritisch, es braucht den Generalisten als Korrektiv an dem sich der Spezialist orientieren kann. Sonst neigt der schnell dazu, sein Spezialgebiet für den Nabel der Welt zu halten.

lieben Gruß
susa
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Charlie

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Re: Verkostungsprofis - Generalisten vs. Spezialisten

BeitragDo 1. Dez 2011, 10:32

octopussy hat geschrieben: Auf der anderen Seite kriegt man bei einigen Spezialisten, z.B. Allen Meadows (Burghound) oder Jean Fisch und David Rayer (Mosel Fine Wines)
Hui, da werden sich die beide aber freuen!
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harti

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Re: Verkostungsprofis - Generalisten vs. Spezialisten

BeitragDo 1. Dez 2011, 10:34

susa hat geschrieben:Ich denke, das ist ein Zeichen der Zeit, den Trend weg vom Generalismus hin zur Spezifizierung gibt es auf allen Gebieten. Ganz anderes Beispiel, ich hatte letzte Woche den Gärtner also den Garten- und Landschaftsbaufachbetrieb im Haus, der sollte ein paar alte Bäume ausgraben und die Laubbäume beschneiden. Und der Azubi erzählte mir, dass es nur beim Gartenbau alleine 9 verschiedene Ausbildungsberufe gibt, vier oder fünf verschiedene weiterführende Qualifikationen etc. Und da sind die Blumen noch nicht berücksichtigt.

Sicher kann sich der Spezialist viel intensiver dem Spezialgebiet widmen und dort detail- und kenntnisreicher wirken. Andererseits ist doch der Generalist viel besser in der Lage, ein Gesamtbild zu erkennen, übergreifende Trends und Tendenzen herauszuarbeiten.

Für meinen Geschmack muss es beide geben, der der mir mit großer Detailgenauigkeit das Wesen eines eng umrissenen Gebietes definiert und es bewertet und der, der aufgrund seiner Rundumsicht die Gebiete alle (oder sehr viele) in ihrer Wirkung unter- und miteinander vergleicht, bewertet und verkünpft.

Eine Tendenz zu immer mehr Spezialisierung sehe ich (nicht nur in der Weinkritik) sehr kritisch, es braucht den Generalisten als Korrektiv an dem sich der Spezialist orientieren kann. Sonst neigt der schnell dazu, sein Spezialgebiet für den Nabel der Welt zu halten.

lieben Gruß
susa


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UlliB

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Re: Verkostungsprofis - Generalisten vs. Spezialisten

BeitragDo 1. Dez 2011, 11:38

octopussy hat geschrieben: Oder wird es auch weiterhin die berühmten Generalisten (Parker, Robinson, H. Johnson, S. Tanzer, usw.) geben, die letztlich von allem etwas probieren, [...]


Nur am Rande: Parker ist schon lange kein Generalist mehr. In Europa bewertet er selber seit einer ganzen Weile nur noch Bordeaux und Rhone (und evtl. Südfrankreich?), alles andere machen seine Mitarbeiter. Insofern ist keineswegs überall, wo Parker draufsteht, auch tatsächlich Parker drin, und man dürfte in sehr vielen Fällen eigentlich nicht von Parker-Punkten reden, sondern korrekt von Galloni-Punkten, Schildknecht-Punkten, Miller-Punkten...

Gruß
Ulli
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Neuppy

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Re: Verkostungsprofis - Generalisten vs. Spezialisten

BeitragDo 1. Dez 2011, 13:05

Die Frage, die sich mir stellt ist, ob es denn nicht wirklich einen objektiven Kern der Weinkritik gibt. Dann müßte es Generalisten geben, damit man wirklich Vergleiche zwischen den verschiedenen Regionen ziehen kann.
Als objektive Kriterien gibt es in jedem Fall die Weinbergs- und soweit ersichtlich Weinkellerarbeit. Generell der Ausbau. Dies kann man objektiv vergleichen und hat auch - zumindest meines Erachtens - geschmackspräögenden Charakter, so daß man hier Vergleiche anstrengen kann.
Auch die verwendete Rebsorte ist immer noch ein objektives Kriterium und kann insoweit bei international verbreiteten Rebsorten als objektives Kriterium verwendet werden.

Der weit größere Teil der Weinkritik wird aber - wie könnte es beim Menschen denn allgemein anders sein - subjektiv sein. Mithin mag es zwar diesbezüglich Kritiker geben, die Generalisten sind, es bringt dem Verbraucher aber im Wesentlichen nichts, da zuviel der Kritik auf Subjektivität beruht. Hier beginnt nun der Bereich, in dem meines Erachtens der Sinn der Spezialisierung beginnt.

Zum einen weiß der Spezialist im Zweifel viel mehr über sein Gebiet als andere Kritiker und hat dadurch einfach einen Wissensvorsprung. Zum anderen kann ich als Verbraucher anhand meiner eigenen, auf meinem Geschmack beruhenden Spezialisierung viel besser nachvollziehen, was denn der Kern der Kritik ist. Wenn ich nun noch die persönlichen Präferenzen des Kritikers kenne, nützt mir diese Kritik im Ergebnis viel mehr.

Um bei Parker zu bleiben. Er war und ist kein Generalist. DIes hat er auch nie behauptet. Seine Kritiker unterscheiden sich für mich insgesamt aber recht deutlich. Schildknechts Bewertungen kann ich mehrheitlich auch in der Höhe nachvollziehen. Miller punktet zu hoch, seine Tendenz teile ich aber ebenso. Mit Galloni kann ich persönlich nichts anfangen. Zu Martin und Perrotti-Brown habe ich mir noch keine Meinung bilden können.

Auch tendiere ich eher zum Gault Millau als zum Eichelmann. Bei Riesling allgemein besonders zu Marcus Hofschuster.

Als Generalisten sehe ich eigentlich nur Johnson und Robinson und mit Abstrichen Broadbent. Dies hängt meines Erachtens aber mit der britischen Weintradition zusammen. Und ob man Broadbent und Johnson wirklich als Weinkritiker bezeichnen kann, wage ich überdies ebenfalls zu bezweifeln. Dafür ist Broadbent als ehemaliger Chef von Christies zu nah am Handel und Johnson in Bezug auf einzelne Weine überhaupt nicht konkret.

Ich glaube also, daß es den Generalisten eigentlich niemals wirklich gegeben hat, mag mich da aber natürlich täuschen.
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UlliB

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Re: Verkostungsprofis - Generalisten vs. Spezialisten

BeitragDo 1. Dez 2011, 13:38

Neuppy hat geschrieben:Ich glaube also, daß es den Generalisten eigentlich niemals wirklich gegeben hat, mag mich da aber natürlich täuschen.


Das ist lediglich eine Definitionsfrage. Für mich ist jemand wie Schildknecht, der ganz Österreich, ganz Deutschland, und dazu halb Frankreich beackert (und wahrscheinlich noch einiges mehr, was mir gerade nicht einfällt), schon ein Generalist. Aber das kann man zugegebenermaßen auch anders sehen - es kommt nur darauf an, wie eng oder weit man die Grenze zieht.

Gruß
Ulli
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octopussy

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Re: Verkostungsprofis - Generalisten vs. Spezialisten

BeitragDo 1. Dez 2011, 13:47

UlliB hat geschrieben:Nur am Rande: Parker ist schon lange kein Generalist mehr.

Neuppy hat geschrieben:Um bei Parker zu bleiben. Er war und ist kein Generalist. DIes hat er auch nie behauptet.

Heute ist Parker sicher kein Generalist mehr. Aber begonnen hat er - soweit ich das sehe - mit deutlich mehr Gebieten als Bordeaux, Rhône und Napa Valley, für deren Beurteilung er wohl am bekanntesten geworden ist. Burgund hat er mal bearbeitet, Südamerika und Italien doch früher auch, oder? Spanien?

Mit Generalisten meinte ich eigentlich auch alle außer den absoluten Spezialisten, und vor allem diejenigen, die einen weltweiten Ruf als Weinkritiker unabhängig von einer bestimmten Region haben. Und dazu gehört Parker ja definitiv.

Worauf ich eigentlich hinaus wollte, ist Folgendes: Wenn man sich die Tweets von Jancis Robinson (stehen auf Ihrer Website), Antonio Galloni, John Gilman (bin ich jetzt über den Dr. Vino Artikel drauf gestoßen), Jeannie Cho Lee und anderen "Großverkostern" anschaut, sieht mir das nach einem ziemlich stressigen, wenn auch vergnüglichen, durch die Welt Hetzen aus. Heute Hong Kong, morgen südliche Rhône, übermorgen Burgund und nächste Woche Sizilien. Dann werden 50 oder mehr Weine probiert, man schreibt schnell was auf und redigiert anschließend noch ein bisschen. Für nähere Fragen an die Winzer über Jahrgangsbesonderheiten, etc. ist im Zweifel keine Zeit mehr. Auch kann ich mir kaum vorstellen, dasss für die intensive Beschäftigung mit einzelnen Weinen großartig Zeit vorhanden ist. Da kann ich micht aber täuschen.

susa hat geschrieben:Für meinen Geschmack muss es beide geben, der der mir mit großer Detailgenauigkeit das Wesen eines eng umrissenen Gebietes definiert und es bewertet und der, der aufgrund seiner Rundumsicht die Gebiete alle (oder sehr viele) in ihrer Wirkung unter- und miteinander vergleicht, bewertet und verknüpft.

Das sehe ich genauso. Nur kommt es mir so vor, als würde auch bei den Generalisten die vergleichende Fernglassicht immer kürzer kommen. Bei dem strammen Programm, das die "Großverkoster" zu absolvieren haben, ist das natürlich nur verständlich. Aber gerade die verknüpfende, vergleichende Bewertungen einzelner Gebiete miteinander oder eines Gebiets mit seiner Vergangenheit, würde ich gerne öfter sehen. Wo finde ich so etwas?
Beste Grüße, Stephan
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weinfex

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Re: Verkostungsprofis - Generalisten vs. Spezialisten

BeitragDo 1. Dez 2011, 13:50

@Ulli

Südfrankreich mach Schildknecht, ausser eben Rhone...
D.h. Parker macht nur noch Bdx und besagte Rhone, allerdings
ist wohl auch dieser Zustand nur ein Auslaufmodel...#inkristallkugelgeschaut... ;)
Grüsse weinfex

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