Was sollen VKNs beinhalten?

Sterne, Punkte, Trauben - oder Obstkörbe
Kle
Beiträge: 1045
Registriert: Fr 10. Dez 2010, 17:18
Wohnort: Hamburg

Re: Was sollen VKNs beinhalten?

Beitrag von Kle »

Zur Frage, was soll in eine VKN rein, gehört ja auch, was ist ihr Zweck. Für Händler und andere Profiverkoster liegt er auf der Hand. Private Genießer helfen Kurzcharakteristiken bei der Archivierung ihrer Vorräte, oder, um sich gegenseitig ihre Eindrücke mitzuteilen. Aber schon da wird es schwierig. Ich kann einen Sonnenuntergang beschreiben, indem ich exakt seine verschiedenen Farbschattierungen aufliste, die Intensität des Lichts, Reflexe, Hintergrund etc oder eine eher dramatische Erzählung daraus machen, wie die Sonne sich allmählich dem Horizont näherte und mich ein bombastischer Farbenrausch überwältigte. Man kann behaupten, die erste Variante sei eher objektivistisch/wissenschaftlich und die andere eher subjektiv/poetisch. Aber die eine ist nicht weniger wahr oder unwahr als die andere. Ich persönlich finde es sehr schwierig, Vorgänge im Wein zu verdeutlichen, die sich nicht analytisch auf wenige Begriffe zurückführen lassen. Hierzu ein Zitat von Daniel Barenboim aus dem letzten „Spiegel“ (12/14), das für mich auch auf den Wein passt:
„Im Grunde kann man über Musik nicht sprechen. Nur über unsere Reaktionen auf Musik. Wäre ich in der Lage, den Inhalt von Beethovens 7. Sinfonie wiederzugeben, wäre es nicht notwendig, sie aufzuführen.“
Für mich ist Wein der Musik sehr ähnlich, aber ich finde schon, dass man den Versuch der Beschreibung auch vermeintlich unsagbarer Eindrücke unternehmen kann. Dass auch „unsere Reaktionen“ ein fassbares Gegengewicht haben. Nur werden die VKNs dann eher experimentell und fragwürdiger, da sie sich weniger auf eine durch gängige Begriffe bereits ausgelotete Erfahrungswelt beziehen. Noch einmal Barenboim: „Musik ist die einzige Erfindung der Menschheit, bei der Dinge zusammengebracht werden können, die im Leben getrennt sind.“ Und: „Mozart etwa schafft es, Weinen und Lachen gleichzeitig zu beschreiben.“
Ähnliche Phänomene gibt es auch im Wein und gehören für mich in eine VKN. Aber wie bloß beschreiben…

Gruß, Kle
Das Schema der Wirklichkeit ist das Dasein in einer bestimmten Zeit
Immanuel Kant, Elementarlehre
Kle
Beiträge: 1045
Registriert: Fr 10. Dez 2010, 17:18
Wohnort: Hamburg

Re: Was sollen VKNs beinhalten?

Beitrag von Kle »

Passt für mich auch auf Wein:
610. Beschreib das Aroma des Kaffees! – Warum geht es nicht? Fehlen uns die Worte? Und wofür fehlen sie uns? - Woher aber der Gedanke, es müsse doch so eine Beschreibung möglich sein? Ist dir so eine Beschreibung je abgegangen? Hast du versucht, das Aroma zu beschreiben, und es ist dir nicht gelungen?
((Ich möchte sagen: „Diese Töne sagen etwas Herrliches, aber ich weiß nicht was.“ Diese Töne sind eine starke Geste, aber ich kann ihr nichts Erklärendes an die Seite stellen. Ein tief ernstes Kopfnicken. James: „Es fehlen uns die Worte“. Warum führen wir sie dann nicht ein? Was müsste der Fall sein, damit wir es könnten?))
Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen
Das Schema der Wirklichkeit ist das Dasein in einer bestimmten Zeit
Immanuel Kant, Elementarlehre
Bernd Schulz
Beiträge: 7092
Registriert: Sa 11. Dez 2010, 23:55
Kontaktdaten:

Re: Was sollen VKNs beinhalten?

Beitrag von Bernd Schulz »

Kle hat geschrieben:Hierzu ein Zitat von Daniel Barenboim aus dem letzten „Spiegel“ (12/14), das für mich auch auf den Wein passt:
„Im Grunde kann man über Musik nicht sprechen. Nur über unsere Reaktionen auf Musik. Wäre ich in der Lage, den Inhalt von Beethovens 7. Sinfonie wiederzugeben, wäre es nicht notwendig, sie aufzuführen.“
Hallo Kle,

Barenboims Aussage kann ich nur bedingt nachvollziehen. Denn die sprachliche (und damit gedankliche) Beschreibung einer "Sache" ist immer etwas anderes als die Sache "an sich". Das haben schon Kant und in seiner Nachfolge Schopenhauer sehr richtig festgestellt.

"Wäre ich in der Lage, den Inhalt von Beethovens 7. Sinfonie wiederzugeben, wäre es nicht notwendig, sie aufzuführen.“

Ja nun - wäre ich in der Lage, den Inhalt meines Wohnzimmertisches ganz getreu wiederzugeben, wäre es nicht notwendig gewesen, ihn zu zimmern! :mrgreen: Oder anders gesagt: Wenn man "im Grunde über Musik nicht sprechen kann", kann man im Grunde über gar nichts sprechen, über Wein ebenso wenig wie über Architektur oder Malerei.
Kle hat geschrieben: Noch einmal Barenboim: „Musik ist die einzige Erfindung der Menschheit, bei der Dinge zusammengebracht werden können, die im Leben getrennt sind.“ Und: „Mozart etwa schafft es, Weinen und Lachen gleichzeitig zu beschreiben.“


Auch die nächste Aussage Barenboims kommt mir bei allem Respekt vor diesem Ausnahmekünstler zu plakativ vor. Es gibt schon Schriftsteller, die es meiner Wahrnehmung nach schaffen, Weinen und Lachen gleichzeitig zu beschreiben. Dostojewski zum Beispiel, oder Thomas Mann.

Herzliche Grüße

Bernd
Kle
Beiträge: 1045
Registriert: Fr 10. Dez 2010, 17:18
Wohnort: Hamburg

Re: Was sollen VKNs beinhalten?

Beitrag von Kle »

Bernd Schulz hat geschrieben:Ja nun - wäre ich in der Lage, den Inhalt meines Wohnzimmertisches ganz getreu wiederzugeben, wäre es nicht notwendig gewesen, ihn zu zimmern!
Obwohl ich es besser wissen müsste, tu ich laufend so, als stimme es nicht. Und oft habe ich das Gefühl, dass niemand diese Weisheit kennt.

Gruß, Kle
Das Schema der Wirklichkeit ist das Dasein in einer bestimmten Zeit
Immanuel Kant, Elementarlehre
Benutzeravatar
dylan
Beiträge: 819
Registriert: Mo 22. Nov 2010, 15:04
Wohnort: NRW

Re: Was sollen VKNs beinhalten?

Beitrag von dylan »

Da dürften selbst die Lyriker von PdP blass werden:

An einem schwülen Abend, als der Regen mit der Idee des Fallens zu schwitzen schien, befand ich mich in einer vertrauten, aber neugierigen Lage. Ich hatte ein Rendezvous geplant mit meinem geschätzten 1969er Les Paul Custom, einem Instrument mit einer Seele, die so alt wie die Zeit war, heulen und durch den Blues singen. Ich stellte mir einen Abend vor, an dem die Noten nahtlos in die Nacht fließen würden, aber es gab eine anhaltende Frage, die an mir nagen würde: Welcher Wein wäre eines solchen Moments würdig? Ball und Kette weg, ich ging in den Keller. Ja, ich hatte einige beeindruckende Bordeaux-Optionen, aber meine Ungeduld würde es mir nicht erlauben, auf die langsame Verführung zu warten, die sie verlangen. Es war dann, dass ich für den Dominus 2019 aus dem Napa Valley griff - eine Entscheidung, die zu gleichen Teilen gewagt und nachsichtig war.
Als ich die Flasche entkorkte, spürte ich einen Schmerz von Schuldgefühlen - eine flüsternde Stimme, die mich daran erinnerte, dass ich diese Schönheit viel zu früh aus dem Keller zog. Der Dominus von 2019 war mit all seiner jugendlichen Kraft nicht ganz bereit für die große Enthüllung. Aber einige Abende erfordern, dass Sie einen Glaubenssprung machen, und ich entschied, dass dies einer von ihnen sein würde. Der Vorlauf der Flasche war erwartungsvoll, aber selbst in ihrem zurückhaltenden Stadium gab es ein Versprechen - ein Hinweis auf die Magie, die im Inneren wartete.
Der erste Schluck war ein strenger Handschlag - zurückgehalten und etwas introvertiert. Es waren alles Graphit, staubige Tannine und grüblerige schwarze Früchte. Aber wie ein klassisches Gitarren-Wärme-up wurde es nur eingestellt, bevor die eigentliche Aufführung begann. Es gab Untertöne von dunklen Kirschen, Cassis und Tabak, aber sie blieben verschlossen und verweilten ihre Zeit. Die ersten Töne fühlten sich wie der Beginn einer langen Reise an - eine Reise, die mich nicht nur durch Geschmack, sondern durch Erinnerung transportierte.
Als der Wein zu atmen begann und sich langsam entfaltete, fand ich mich zurück zu den Hirtentagen meiner Jugend in Castelnou, Pyrénées-Orientales. Die zerklüftete Landschaft der Region schien aus dem Glas zu sickern und brachte den Duft der feuchten Erde nach einem Regenfall und den sonnenverwöhnten Steinen alter Wege mit sich. Ich war damals nur ein Junge und pflegte die Felder auf dem Anwesen meines Großvaters. Die Tage waren lang und voller Mühe, die nur ein Farmjunge kennt, aber es gab eine Einfachheit und Reinheit in diesen Momenten - Dinge, nach denen ich mich jetzt inmitten des Aufwachens von Seattle sehne.
An besonders nassen und wilden Abenden, an denen der Regen auf das Dorf herabstieg, suchten wir Zuflucht in L'HOSTAL. Mein Großvater, ein Mann mit mehr Charisma als gesundem Menschenverstand, würde sich mit alten Freunden versammeln, um zu trinken und zu spielen. Sie spielten Gluckshaus, ein mittelalterliches Glücksspiel, das Würfel würfelte, als sie rustikalen Wein schlürften und Geschichten austauschten, die sich über Jahrzehnte erstreckten. Das Lachen, das Geplänkel, die Kameradschaft - es war eine Zeit, in der die Welt fühlte, als wäre sie vollkommen im Gleichgewicht, wo die Sorgen im Trinken ertränkt wurden und die Nacht ewig schien. Es war dieses Gefühl der ungefilterten Freude, das der Dominus zu offenbaren begann, als er sich nach gut zweieinhalb Stunden öffnete.
Die Transformation war nichts weniger als bemerkenswert. An diesem Punkt kam der Dominus mit einer Opus One-ähnlichen Größe zur Geltung, die ich vorher in einem Napa-Weinstand nicht gesehen hatte. Das Bouquet sang jetzt mit einer tiefen, resonanten Harmonie - reiche Pflaumen, reife Brombeeren und ein Flüstern von Veilchen, die alle mit dieser verräterischen staubigen Mineralität befleckt sind. Der Wein entwickelte sich zu einer seidigen, vollmundigen Angelegenheit, die eine Eleganz und Tiefe ausstrahlte, die die Meisterschaft hinter seiner Kreation ansprach. Die Tannine wurden weicher und enthüllten Schichten von Kakao, Zedernholz und einem Hauch von getrockneten Kräutern, die ihm trotz seiner kalifornischen Wurzeln eine deutlich europäische Sensibilität gaben.
Als der Abend weiterging, fand ich die Noten meines Les Paul, der sich nahtlos mit der sich entwickelnden Komplexität des Weins verschmelzen ließ. Die Improvisationsausbrüche auf dem Griffbrett schienen sich mit dem Rhythmus des Weins zu synchronisieren, als er sich von grübelnder Intensität zu einem raffinierten und polierten Finish bewegte. Der Reichtum war fast orchestral - wie eine Bach-Fuge, die durch Blues-Schüler neu interpretiert wurde, wobei jeder Akkord etwas tiefer klang, als der Wein sein Crescendo erreichte.
In gewissem Sinne war dieser Dominus ein passender Begleiter für die Nacht. Sowohl die Gitarre als auch der Wein waren Kanäle zu etwas Zeitlosem, etwas weit über die Gegenwart hinaus. Das Trinken fühlte sich an, als würde man durch ein Portal zurück zu den regengetränkten Straßen von Castelnou treten, wo der Wein nicht nur ein Getränk, sondern ein Stück unserer Geschichte war, ein Medium, durch das Geschichten floss. Das herzhafte Lachen meines Großvaters hallte in meinem Hinterkopf wider, als ich einen weiteren Tropfen nahm, die Wärme des Weins, der Erinnerungen wieder aufleben ließ, die lange von den Jahren begraben wurden.
War es zu früh, um den Dominus 2019 zu eröffnen? Zweifellos ja. Es ist ein Wein mit Jahrzehnten, ein Wein, der zu etwas Tiefem und Poetischem reifen wird. Aber in diesem Moment, in seiner jugendlichen Ungestümheit, bot es immer noch eine Erfahrung, die sich selten und flüchtig anfühlte - wie ein roher Blues-Solo, voller Emotionen und ungeschliffener Schönheit. Manchmal ist das Timing nicht wegen der Präzision, sondern wegen der Spontaneität perfekt.
Der Dominus hatte vielleicht nicht das königliche Alter eines alten Bordeaux, aber es brachte ein Gefühl von Nostalgie und Abenteuer mit sich, ein Hauch von wilder Unberechenbarkeit meiner Jugend. Es war eine Erinnerung daran, dass, während sich einige Dinge mit der Zeit verbessern, es eine deutliche Freude daran gibt, etwas in seiner frühen Blüte einzufangen - wenn es immer noch voller Energie und Potenzial ist.
Als die letzten Töne verblassten und der letzte Schluck ausgelaugt wurde, konnte ich nicht anders, als zu fühlen, dass ich etwas Seltenes erlebt hatte - eine Kreuzung der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die alle zu einem einzigen Abend destilliert wurden. Der Dominus 2019 mag Jahre haben, bevor er wirklich seinen Höhepunkt erreicht, aber für diese Nacht war es die perfekte Muse - eine reiche, resonante Ode an die Vergangenheit und ein vielversprechender Blick auf das, was vor ihm liegt.

Gefunden auf CellarTracker und übersetzt mit beta.

Grüße und einen schönen Sonntag

dylan
Antworten

Zurück zu „Bewertungssysteme und Weinbeschreibungen“