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Naturwein

Was Sie schon immer über Wein wissen wollten, aber nie zu fragen wagten
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susa

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Naturwein

BeitragMo 12. Mär 2012, 09:35

Das Thema der nächsten Weinrallye, die wieder aufgelebt ist und einen fulminanten Neustart hingelegt hat, ist "Naturwein". Nun lese ich mich in die Thematik ein und frage mal interessiert in die Runde

Was versteht man/versteht Ihr unter Naturwein?

Wie grenzt sich Naturwein von Biowein ab?

Gibt es überhaupt Naturwein oder ist Wein nicht immer ein "Kunstprodukt"?

lieben Gruß
susa
Red wine with fish. Well, that should have told me something.
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Gerald

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Re: Naturwein

BeitragMo 12. Mär 2012, 09:48

Also meiner Meinung nach ist Wein immer ein "Kunstprodukt", denn der natürliche Weg der Traube endet nicht im Wein, sondern in Kohlendioxid und Wasser. Man muss definitiv "unnatürliche" Bedingungen schaffen, damit so etwas Ähnliches wie Wein entsteht und auch bis zum Trinken erhalten bleibt.

"Naturwein" ist für mich ein netter Begriff, der aber - anders als Biowein - keinerlei "offizielle" Definition hat und wo jeder Winzer das hineininterpretieren kann, was ihm gerade gefällt. Wir erinnern uns an einen prominenten Vertreter dieser Linie, der überhaupt kein Problem darin sieht, seine Rebzeilen mit Herbiziden von Unkraut zu befreien ;)

Andererseits verstehe ich natürlich auch das Unbehagen, das viele Menschen mit den diversen Zusatzstoffen in Wein haben und sich nach der "guten alten Zeit" zurücksehnen, als diese Zusatzstoffe noch nicht bekannt waren bzw. dort eingesetzt wurden. Nur ist das meiner Meinung nach eine trügerische Art der Nostalgie, denn seinerzeit gab es zwar fast nur "natürliche" Zusatzstoffe, die waren aber teilweise wirklich gesundheitsschädlich, manchmal sogar lebensgefährlich. Man denke an den Bleizucker (!) als Weinzusatz bei den Römern oder hochgiftige Pflanzen wie Bilsenkraut, das im Mittelalter dem Bier zugesetzt wurde.

Grüße,
Gerald
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octopussy

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Re: Naturwein

BeitragMo 12. Mär 2012, 10:22

Hallo susa,

das ist ja mal ein interessantes Thema, wobei Naturwein irgendwie unnatürlicher klingt als vin naturel. Mir persönlich ist keine Definition bekannt, mit klaren Abgrenzungen tut man sich in dem Bereich im Zweifel auch schwer. Als Anhaltspunkt setze ich hier mal die Teilnahmebedingungen für zwei "Natural Wine Fairs" rein, die beide im Mai in London stattfinden werden.

Real Wine Fair

- Participating growers work organically or biodynamically in the vineyard and with total respect for the environment.
- All grapes used to make exhibited wines have been hand harvested.
- Fermentation has occurred using only natural yeasts.
- No chemical additives have been used, or rectifications of the wine carried out.
- Use of additional SO2 should be kept as minimal as possible.


RAW - The Artisan Wine Fair

- Grapes must be farmed organically and/or biodynamically, whether or not certified.
- The entirety of the Domaine from which the grapes are issued must be farmed organically and/or biodynamically, whether or not certified.
- Grapes must be hand-harvested.
- Only indigenous yeasts may be used except in the case of the second fermentation of sparkling wines, when neutral yeasts may be added.
- No winemaking additives may be used in the cellar, bar, at most, a little SO2*. (We understand this to mean that the producer is ultimately aiming to add as little SO2 as possible. Total sulphites will be clearly labelled, unless no sulphites have been added whatsoever, in which case the mention 'no added sulphites' will be included in the wine's description).
- No ʻheavy-manipulationʼ has been carried out using winemaking gadgetry such as reverse osmosis or cryo-extraction, spinning cone, and so forth.


Es gibt innerhalb der Bewegung dann noch zahlreiche unterschiedliche Strömungen von den ganz radikalen zu den gemäßigteren Erzeugern. Ich finde immer größeren Gefallen an den besseren der vins naturels. Gerade die niedrige oder nicht vorhandene Schwefelung bringt für mich ein deutliches Plus an klar und präzise erkennbarem Geschmack.

Hier ist noch ein Artikel von Isabelle Legeron MW, der Veranstalterin der Real Wine Fair, der im September 2011 im Decanter erschienen ist. Ansonsten ist als Lektüre das Kapitel über Natural Wine in dem Buch "Authentic Wine" von Jamie Goode und Sam Harrop zu empfehlen. Ohne das Buch gelesen zu haben, vermute ich anhand von ein, zwei Rezensionen, dass das Buch "Naked Wine" von Alice Feiring eher das Niveau ihres ersten Buchs hat :?.
Zuletzt geändert von octopussy am Mo 12. Mär 2012, 11:18, insgesamt 1-mal geändert.
Beste Grüße, Stephan
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Gerald

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Re: Naturwein

BeitragMo 12. Mär 2012, 10:29

Hallo Stephan,

danke für die Zitate. Bei vielen Punkten lässt sich schon klar erkennen, dass die Regelungen mehr als schwammig sind ;)

z.B. "SO2 should be kept as minimal as possible", "organically and/or biodynamically, whether or not certified", "using only natural yeasts" (was sind eigentlich "künstliche Hefen") oder "No ʻheavy-manipulationʼ" (wer zieht die Grenze zu "light manipulation") ...

Ich sehe das Ganze eher als prinzipielles Bekenntnis denn als echte Selbstbeschränkung. Fast so wie die gebetsmühlenartig von jedem Winzer heruntergeleierten Sprüche wie "die Qualität entsteht im Weingarten", "wir bemühen uns um naturnahe Bodenbewirtschaftung" etc.

Grüße,
Gerald
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octopussy

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Re: Naturwein

BeitragMo 12. Mär 2012, 11:03

Gerald hat geschrieben:Bei vielen Punkten lässt sich schon klar erkennen, dass die Regelungen mehr als schwammig sind ;)

Hallo Gerald,

es geht ja auch nicht um ein Gesetz, ein Dekret oder ähnliches. Bei den vorgenannten Teilnahmebedingungen geht es um Anhaltspunkte, die versuchen, einen kleinsten gemeinsamen Nenner einer Idee mit ausreichend Flexibilität zu bilden. Diese Flexibilität braucht man m.E. auch, da Weinbereitung - so wie ich sie mir vorstelle - nicht nach Schema F in jedem Jahrgang und mit jeder Traubensorte funktioniert.

Übrigens scheint mir bei denjenigen, die sich der Naturweinidee verschreiben, der Wille zur Transparenz in starkem Maße vorhanden zu sein. Bei dieser Art von Weinen kriege ich eigentlich immer durch Lesen der Etiketten oder der Website heraus, was im Weinberg und im Keller im Wesentlichen gemacht oder nicht gemacht wurde.

Es wird immer Erzeuger geben, die auf den Zug springen und mit hohlen Werbeaussagen eine eigentlich gute Idee verwässern. Aber das ließe sich allenfalls durch sehr strikte Regeln vermeiden, die dann möglicherweise wieder so eng sind, dass keiner mehr mitmachen will.
Beste Grüße, Stephan
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UlliB

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Re: Naturwein

BeitragMo 12. Mär 2012, 11:25

octopussy hat geschrieben:Es wird immer Erzeuger geben, die auf den Zug springen und mit hohlen Werbeaussagen eine eigentlich gute Idee verwässern. Aber das ließe sich allenfalls durch sehr strikte Regeln vermeiden, die dann möglicherweise wieder so eng sind, dass keiner mehr mitmachen will.


Eine Zertifizierung wäre da aber schon einmal ein erster Schritt. Das normale Biosiegel sagt nicht allzu viel; wer sich aber durch Demeter zertifizieren lässt, muss dulden, dass in seinem Laden das unterste zuoberst gekehrt wird.

Wie etliche Beispiele aus jüngster Zeit zeigen: im Biolandbau bzw. im Vertrieb von biologisch angebauten Produkten wird systematisch gelogen und betrogen. Wenn man dieser Linie anhängt (man muss das nicht, etliche große Weine entstanden und entstehen im konventionellen Landbau), muss man rigorose Kontrollen befürworten. Insofern ist es schon fraglich, warum eine Zertifizierung nicht obligatorisch gefordert wird.

Was mich an der ganzen Sache stört, ist die ideologische Aufladung des Themas. Manches mag im Hinblick auf die Weinqualität und die Schonung der Umwelt sinnvoll sein - aber warum wird z.B. eine Handlese obligatorisch gefordert? Nur weil sonst eine Maschine zum Einsatz kommt? Keltern die "Naturwinzer" ihre Weine auch mit der Hand?

Gruß
Ulli
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octopussy

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Re: Naturwein

BeitragMo 12. Mär 2012, 14:54

UlliB hat geschrieben:Eine Zertifizierung wäre da aber schon einmal ein erster Schritt. Das normale Biosiegel sagt nicht allzu viel; wer sich aber durch Demeter zertifizieren lässt, muss dulden, dass in seinem Laden das unterste zuoberst gekehrt wird.

Wie etlich Beispiele aus jüngster Zeit zeigen: im Biolandbau bzw. im Vertrieb von biologisch angebauten Produkten wird systematisch gelogen und betrogen. Wenn man dieser Linie anhängt (man muss das nicht, etliche große Weine entstanden und entstehen im konventionellen Landbau), muss man rigorose Kontrollen befürworten. Insofern ist es schon fraglich, warum eine Zertifizierung nicht obligatorisch gefordert wird.

Hallo Ulli,

eine obligatorische Zertifizierung durch einen anerkannten Verband fände ich auch gut. Dagegen könnten Kosten sprechen. Eine Demeterzertifizierung kostet z.B. 1,9% des Umsatzes mit Produkten, auf denen das Demeter-Label klebt. Was andere Zertifizierungen (z.B. Biodyvin) kosten, weiß ich nicht. Angesichts der Werbekraft der Zertifizierung dürfte sich diese vielleicht rechnen (kann ich nicht beurteilen).

Unabhängig davon finde ich es aber ganz gut, für solche Weinmessen die Hürden nicht allzu hoch zu setzen. Sonst bleibt das nämlich eine Mini-Veranstaltung von und für Vollfreaks. Wenn mir persönlich z.B. wichtig ist, dass ein Winzer tatsächlich biodynamisch arbeitet und nicht nur behauptet, biodynamische Praktiken anzuwenden, dann achte ich eben auf die Zertifizierung und betrachte alles andere als prima facie unsicher.

UlliB hat geschrieben:Was mich an der ganzen Sache stört, ist die ideologische Aufladung des Themas.

Ich glaube auch, dass die vin naturel Szene nur dann eine Chance hat, wenn sie ihre Weine und deren Zubereitung nicht als zwingend besser, ehrlicher oder weltrettender anpreist, sondern sie als valide Alternative anbietet. Von der Qualität bin ich bei dem ein oder anderen vin naturel wirklich begeistert (andererseits hier und da auch enttäuscht).
Beste Grüße, Stephan

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