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Weinprobe "Kellerleichen" in Würzburg

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weinaffe

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Weinprobe "Kellerleichen" in Würzburg

BeitragMo 7. Aug 2023, 19:27

Hallo zusammen,

letzten Donnerstag konnte ich an einer interessanten Weinprobe unseres lokalen "Weindealers" teilnehmen, die unter dem wenig einladenden Titel "Weinleichen" lief. Besagter Weinhändler kauft immer wieder private Weinkeller auf, unter denen sich immer wieder Flaschen befinden, die entweder keinen Verkaufswert besitzen oder potentiell hochwertig sein können, aber aus diversen Gründen (verdreckte, verschimmelte oder fehlende Etiketten, unleserliche oder fehlende Jahrgangsangaben, fehlende Kapseln etc.) nicht verkaufsfähig sind. Das Konzept dieser Probe ist aber sehr fair gestaltet. Jeder Teilnehmer zahlt nur den Grundpreis (40 EURO), der das Essen (reichlich Käse vom Tölzer Kasladen sowie ebenso reichlich Schinken von der Berkel und diverse Brotsorten), Mineralwasser, den Begrüßungssekt (hier den Riesling Brut von Griesel) sowie das "Absacker-Bier" (hier vom PAX-Bräu) sowie den allgemeinen Service umfasst. Die folgende Probe war grundsätzlich kostenfrei, jedoch konnte jeder Teilnehmer nach der Probe die EURO in den "Spendentopf" werfen, die ihm die Probe wert war.

Doch nun zu den insgesamt 14 Weinen, die trotz des Alters doch überwiegend noch sehr lebendig waren:

Wein Nr. 1: größtenteils abgerissenes Etikett, Abfüller lesbar (Jaboulet-Vercherre, ein bekannter Erzeuger und Negociant aus Beaune), wahrscheinlich ein Chardonnay aus den 70er oder 80er Jahre
zartes Hellgold, durchaus noch lebendige Nase, Hauch Kernobstfrucht, sehr mineralisch, gute Länge. Für dieses Alter noch überraschend gut in Schuss.

Wein Nr. 2: 1966er Würzburger Stein Riesling (Juliusspital)
bei diesem Wein merkte man das Alter schon: knalltrockener Eindruck, deutliche Säure, zwar sauber, aber jetzt wenig Substanz, etwas wässriger Abgang. Unfallfrei zu trinken, aber deutlich über dem Zenit.

Wein Nr. 3: 1934er Niersteiner Heiligenbaum Riesling (Auslese oder BA?)(Staatl. Weinbaudomäne Mainz)
ein erster Höhepunkt: grandioser Altwein,intakte Zitrus/Pfirsichfrucht, angenehme Bortrytis, aber klarer Sortentyp, wirkt noch frisch, komplex, auch ohne Altwein-Bonus großes Kino. Blind probiert hätte ich den Wein auf vielleicht 20 oder 25 Jahre geschätzt.

Wein Nr.4: 1989er Ayios Elias Dry red (Monte Royia Wines, Zypern)
lebendiges Rubinrot, dunkle Früchte, etwas rustikales Tannin, angenehme Säure, macht durchaus noch Spass. Eine Cuvee aus 6 einheimischen Rebsorten.

Wein Nr. 5: leider nur fragmentarisches Etikett, Erzeuger Carvalho,Ribeiro e Ferreira, 1961er Garrafeira tinto
ein fass-und flaschengereifter Portugiese, vermutlich Dao oder Douro-Herkunft oder auch ein Verschnitt verschiedener Regionen. Der Wein ist aber in bestechender Form: noch dichtes Rubinrot, intakte, satte Dunkelfrucht (Kirsche, Brombeere), sogar noch etwas Tannin, sanfte Extraktsüsse, toller, mediterraner Typ mit Kraft und Länge. Laut Etikett nur 12 Vol% !! Den hätte ich niemals auf über 60 Jahre alt geschätzt.

Wein Nr. 6: 1962er Castello di Nipozzano Chianti Rufina Riserva (Frescobaldi)
ein möglicherweise reinsortiger oder fast reinsortiger Sangiovese, lebendiges Rubin mit dunklem Kern, angenehme Frucht, nur Anflug von sekundärer Reife, saftige Säure, etwas eckiges Tannin, in bemerkenswert gutem Zustand. Erreicht aber nicht den Top-Zustand und die Qualität des Portugiesen.

Wein Nr. 7: 1975er Marienthaler Klostergarten Spätburgunder Auslese (Staatl. Weinbaudomäne Marienthal)
reinriechen und sofort: restsüsser deutscher Spätburgunder alter Schule, deutliche Erdbeerfrucht, zart restsüss, aber völlig intakt, angenehme Länge. Sehr lebendig und eine helle Freude für Liebhaber dieser etwas aus der Mode gekommenen Stilistik.

Wein Nr. 8: 1976er Chateau de Belle Morgon a.c. (Abfüllung Piat Pere et Fils, Macon)
ein im Rahmen der "Eiswette" von Reidemeister & Ulrichs in Bremen vertriebener Beaujolais-Cru. Stammt aus einem mit ca. 6 Grad temperierten Weinkeller, erklärt den phantastisch frischen Zustand dieses Weines, blind hätte ich sofort auf einen gutklassigen Bourgogne-Cru getippt, absolut intaktes, leicht durchscheinendes Rubinrot, sehr elegante, facettenreiche Nase, Kirsche, Himbeere, zart kräutrig, gute Länge. Ich hätte nicht gedacht, dass Gamay-Weine auch bei perfekter Lagerung so lange reifen können. Auch bei diesem Wein hätte ich mich altersmäßig stark verschätzt.

Wein Nr. 9: ohne erkennbaren Jahrgang, aber laut Rückfrage beim Weingut wohl ein Wein aus den 70er Jahren, ansonsten intaktes Etikett mit hervorragendem Füllstand, mit Jahrgang wäre der Wein wohl für einen hohen 3-stelligen Betrag über die Ladentheke gegangen: es handelte sich um den Gevrey-Chambertin Les Cazetiers 1er Cru von Armand Rousseau !!!! Auch ohne dieses Wissen und blind verkostet wird sofort die Extraklasse dieses Weines klar. Aufgehelltes Kirschrot mit dezentem Ziegelrot, ultrafeine, äusserst komplexe Nase, die zwischen Waldfrucht, sous bois, kräutrigen Noten changiert, sehr dicht und trotzdem von schwebender Finesse, ganz grosser, fast zeitloser Burgunder der Extra-Klasse. Kein Wunder, dass fast jeder ambitionierte Pinot-Winzer dieses Weingut als Vorbild hat. Schon allein für diesen Wein hätte sich das Kommen gelohnt.

Wein Nr. 10: 1976er Chateau Branaire Duluc-Ducru Grand cru Classe St. Julien
Was ein stabil 6 Grand Celsius kalter Weinkeller ausmacht, ist an diesem tollen Wein erschmeckbar. Die meisten Bordeaux dieses Jahrgangs sind mittlerweile verblüht, nicht jedoch dieses Exemplar: voll auf dem Höhepunkt, superelegante Dunkelfrucht (Brombeere, Cassis, Kirsche), etwas Extraktsüsse, zart kräutrig, Zedernholz, zarte Säure, ein Charmebolzen erster Klasse mit viel Finesse, tolle Länge. Großartiger Bordeaux, blind hätte ich vielleicht auf einen 2001er getippt. So kann man sich irren ;)

Wein Nr. 11: 1970er Chateauneuf-du-Pape (Chateau de la Gardine)
Dieser Wein traf allerdings punktgenau das Thema der Probe,nämlich "Leichenfledderei" :lol: Farblich ein trübes, milchiges, helles Rose, keine Frucht, dünn sauer, einfach hinüber. Interessant war aber, dass sich in der Flasche einige Zentimeter am Boden eine pechschwarze, schleimige Schicht abgesetzt hat, wohl sämtliche Farb-, Tannin- und sonstigen, geschmacksrelevanten Stoffe. Man hätte die Flasche vor Gebrauch wohl kräftig schütteln müssen :lol:

Wein Nr. 12: ein Wein ohne jeglichen Verkaufswert, auch wenn der Inhalt durchaus Freude bereitet: ein jahrgangsloser (dem schaurig-schönen, kitschigen Etikett nach wohl aus den 50er oder 60er Jahren, ein Muskateller aus italienischen Grundweinen, wohl aufgespritet, von der Schlossbergkellerei Schnaufer aus Calw. Angenehme Süsse, als Muskateller gut erkennbar, noch sehr lebendig, blind hätte ich auf einen ordentlichen, aufgespriteten Muscat Alexandria aus Südfrankreich getippt.

Wein Nr. 13: 1975er Bodenheimer Silberberg Scheurebe Beerenausles (Adam Darmstadt und Sohn)
Wiederum ein Wein ohne nennenswerten Verkaufswert, der Wein ist aber ganz ausgezeichnet: Sehr saubere Bortrytis, ganz klare Sortenart, Cassis, tropische Früchte, zarte Würze, angenehm abgeschmolzene Süsse, noch in bester Verfassung. Wer solch einen No-Name-Wein für wenig Geld kauft,erhält einen extrem guten Gegenwert.

Zum Abschluss noch ein Traumwein aus einem großen Jahrgang, leider mit zerfetztem Etikett:

1959er Lage nicht lesbar Riesling Trockenbeerenauslese (Zacharias Bergweiler-Prüm)
phantastisch komplexe Nase, tropische Früchte, Vanille, Kaffee, ein ganzer Bazar aus Frucht und Würze, und die Nase ändert sich minütlich, unheimlich jugendlich, kann Luft gut vertragen, öffnet sich immer mehr, trotzdem kein Bortrytis-Dickschiff, sondern schwebende Eleganz und Finesse, absolut zeitloser Weltklasse-Riesling aus der halben Flasche !!

Großartige Probe zum Quasi-Nulltarif, bei dem aber jeder Teilnehmer gerne seinen freiwilligen Obolus in den Topf warf.
Zum Abschluss noch ein Bierchen vom Pax-Bräu aus der Literflasche... das Leben kann so schön sein.

LG
Bodo
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Jochen R.

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Re: Weinprobe "Kellerleichen" in Würzburg

BeitragMo 7. Aug 2023, 20:04

Toll !! Vielen Dank, Bodo.
Belgrave ist nichts für Unschuldige
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willinger1

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Re: Weinprobe "Kellerleichen" in Würzburg

BeitragDo 10. Aug 2023, 20:36

Vielen Dank auch von mir für den tollen Bericht.
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mixalhs

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Re: Weinprobe "Kellerleichen" in Würzburg

BeitragDo 10. Aug 2023, 21:27

Wow. Danke für den Bericht!

Und eine tolle Anregung, so etwas selbst mal zu machen.
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Ralf Gundlach

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Re: Weinprobe "Kellerleichen" in Würzburg

BeitragDo 10. Aug 2023, 22:09

Hallo Bodo,

da habt ihr ja ganz spannende Sachen getrunken. Wow. Um zwei Weine beneide ich dich besonders: 76er Branaire-Ducru un die 75er Klostergarten Auslese von der Domäne Marienthal. Aber auch ansonsten richtig spannend, was ihr da getrunken habt. Und es immer wieder erstaunlich, wie sich solche alten Sachen manchmal halten, wenn der Erzeuger und das Jahr stimmt.

Gruß

Ralf
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Udo2009

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Re: Weinprobe "Kellerleichen" in Würzburg

BeitragFr 11. Aug 2023, 08:38

Wir sind nächstes Wochenende an der Ahr... muss ich im Kloster Marienthal doch mal fragen, ob sie noch so was gut gereiftes im Keller haben.... ;)

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