Ab Oktober 2019 kam es im Libanon zu (gegenwärtig noch andauernden) Protesten gegen die Regierung im Libanon. In den Nachrichten war ja einiges mitzubekommen, man kann Details z.B. auf
Wikipedia nachlesen; ich will gar nicht anfangen, die Hintergründe zusammenzufassen, das ist eine politisch äußerst komplexe Sachlage. Das Zentrum der Proteste liegt in der Beiruter Innenstadt in der Gegend um den Märtyrer-Platz (Place des Martyrs).
Im Vordergrung die Ruine des nie fertig gestellten Kinogebäudes (
The Egg). Es war jahrelang abgesperrt und wird jetzt von den Protestierenden als öffentlicher Raum genutzt. Im Hintergrund die Mohammed-al-Amin-Moschee.
So, noch schnell ein Selfie vor den Straßensperren gemacht und in Russenhocke vor den Einschusslöchern aus dem Bürgerkrieg posiert und dann weiter in das anliegende Viertel
Gemmayzeh.
Gemmayzeh ist ein ziemliches Szeneviertel in Beirut, ein bisschen erinnert es an Prenzlauer Berg. Entlang der Straße
Rue Gouraud befinden sich eine Reihe von Bars, Cafes, Restaurants und nicht zuletzt Barbiere, bei denen sich die Hipster ihre Bärte stylen lassen. Auch die Beteiligung der Beiruter Kulturszene an der Protestbewegung findet sich in Gemmayzeh in Form von Grafittis und Plakaten wieder.
Ich habe mir erklären lassen, dass hier Thawra steht, arabisch für Revolution.
An besagter Rue Gouraud befindet sich auch der Wine Tasting Room des recht neuen Weinguts
Vertical 33, benannt nach dem 33. Breitengrad, an dem sich ungefähr die Weinberge befinden. 2014 war der erste Jahrgang in Flaschen. Der Standort des Tasting-Rooms hat mit Sicherheit Image-bildende Funktion. Trend, Avantgard, Individualität, Lokalität, Internationalität, ... Die Story um das Weingut und ihre Philosophie möchte ich jetzt nicht im Detail wiedergeben, kann man sich bei Interesse alles auf der Homepage des Weinguts anlesen. Erwähnenswert ist, denke ich, das Yves Confuron (vom Weingut Confuron-Cotetidot und Domaine de Courcel aus dem Burgund) als Winemaker beteiligt ist. Analog zu den Weinen von Confuron-Cotetidot werden auch die Weine von Vertical 33 alle durch vollständige Ganztraubenvergärung bereitet.
Alle Rotweine werden bewusst reinsortig bereitet. Cinsault, Carignan, seit 2017 ein Cabernet Sauvignon und Pinot Noir, wohl in 2019 die erste Ernte. Die Weinberge liegen alle in der Beeka, teilweise an den Hängen und nicht direkt in der Ebene und sind alle gepachtet. Es werden keine Trauben zugekauft.
Angefangen mit dem
Rose - Vertical 33 - 2017:
Den fand ich schon recht spannend. Funktioniert gut als Aperitif, wirklich mehr als ein Glas würde ich aber nicht wollen. Ist schon sehr speziell.
Dann gab es drei Rotweine zu verkosten.
Cinsault du Soir- Vertical 33 - 2017:
Mit dieser extremen Fruchtexposition kann ich wenig anfangen. Auch einige grüne Gerbstoffe, erinnern an Rappen, finden sich in dem Wein und harmonieren mit der Frucht ganz schlecht.
Carignan- Vertical 33 - 2017:
Der Carignan legt in Punkto Frucht noch mal eine Schippe drauf. Die Tannine etwas schöner als beim Cinsault, extreme Frucht. Auch nicht unschuldig beim Alkohol und Extrakt, was für einen Süßeeindruck sorgt.
Cabernet Sauvignon - Vertical 33 - 2017:
Auch der Cabernet Sauvignon schlägt in dieselbe Kerbe: Frucht, Frucht, Frucht. Recht zugänglich und voll, aber nichts für mich.
Die Weine sind noch sehr jung, vielleicht aus deshalb hinter der massiven Frucht eher unkenntlich.
Wahrscheinlich habe ich die Weine und das Konzept einfach nicht verstanden. Ich kann aber aus mehreren Gründen den Rotweinen wirklich ganz wenig abgewinnen. In meinen Wein-Lehrbüchern habe ich gelesen, dass es für Ganztraubenvergärung wichtig ist, dass die Trauben vollkommen reif sind. Ansonsten läuft man Gefahr, dass man sich grüne Tannine von den Rappen extrahiert. Fruchtaromen werden stark betont, man erhält eine sehr kräftige Farbe und Tannine werden nur sanft extrahiert und sind recht weich, die Säure behält eine gute Frische. Durch die Vergärung in offenen Behältern verfliegt ca. 1.5% Alhohol bei der Fermentation.
Alles das findet man auch in diesen Weinen. Was mir aber nicht gefällt, ist, dass durch die hohe Reife die Weine viel Alkohol haben und sehr viel Glycerin und deshalb alkoholisch-süß schmecken. Dieser volle Körper wird dann m.M. nach nicht ausreichend durch die Gerbstoffe strukturiert, ich empfinde die Weine als etwas konturlos. Und unabhängig von der Rebsorte schmecken die Weine einfach nur nach extremer Frucht. Ich erkenne nicht wirklich eine Sortentypizität.
Ich bin ja allgemein kein besonderer Fan von Ganztraubenvergärung, für mich ist Ganztraubenvergärung für die Weinbereitung irgendwie das, wie es sich mit Air-Brush-Technik bei der Malerei verhält: Schießt ziemlich schnell über das Ziel hinaus. Wenn gegenständliche Malerei vielleicht ein geeigneter Stil wäre, so etwas wie z.B. Terroir darzustellen, kommt da in meiner Vorstellung mit Airbrush eher
so was bei rum. Ich finde, bei Ganztraubenvergärung ist sehr schwer das richtig Maß zu treffen, häufig lösen Weine aus Ganztraubenvergärung bei mir ähnliches aus, wie das Betrachten einer halbnackten Elfen-Kriegerin auf der Innenseite einer Motorhaube.
Ich habe es wahrscheinlich einfach nicht verstanden und bin natürlich auch ignorant. Ich blicke es nicht, wie Vertical 33 ihre "Mission and Vision" auf diese Weise umsetzen wollen:
We see our operation as a mission to save and revive the microclimatic diversity of Mount Lebanon. These mountains with variable altitudes, the Mediterranean Sea, the humid west wind, an omnipresent sun and a myriad of other factors enrich our “terroir “ that should be expressed authentically and ethically in a product that respect the “ sense of place” and not the crushing globalization of flavors. Mir ist Vertical 33 erst mal durch ambitioniertes Marketing und ambitionierte Preise in Erinnerung geblieben (kann mich nicht mehr genau erinnern, der Flaschenpreis lag aber über 25€). Wir haben uns etwas mit dem Mitbegründer George Cortas unterhalten. Als er hörte, dass wir aus Deutschland kommen, erzählte er uns, dass Riesling ja der kommende Pinot Noir sein wird (in bezug auf die erziehlbaren Preise). Ich bin ein skeptischer bis misstrauischer Mensch, ich habe ihm die Story von wegen Herkunft, Terroir, Authentizität etc. nicht abgekauft. Die wollen ihren Invest lohnend machen, ist ja auch in Ordnung. Aber was anderes erzählen nervt mich.
Um nochmal an den Anfang des Beitrages zurückzukommen, die Proteste im Libanon haben durchaus Event-Charakter, neben den politischen Kundgebungen läuft viel Musik, die Menschen sind ausgelassen und tanzen, Straßenhändler bieten Essen und Trinken an (z.B. frisch gepresster Granatapfelsaft, Fleischspieße, gegrillte Maiskolben). Nach den Kundgebungen führt es auch noch viele Menschen nach Gemmayzeh, um den Abend ausklingen zu lassen. Aus Solidarität zu den Protestierenden gab es bei Vertical 33 die Weine zum Drittel des Preises.
Grüße, Josef