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Im Wein liegt Wahrheit, sagt man.
Aber das mit der Wahrheit ist gar nicht so einfach. Der Mensch, das ist wissenschaftlich erwiesen, lügt ungefähr 200 Mal am Tag und täte er es nicht, es hätte ungeahnte Folgen für das menschliche Zusammenleben und den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
In der Bibel steht ja auch gar nicht "Du sollst nicht lügen!", da steht "Du sollst kein falsches Zeugnis abgeben wider Deinem Nächsten!" eine Forderung, die heute in Form der Arbeitszeugnissen zu äußerst gequälten Formulierungen führt. Jedenfalls steht da nicht, man solle einem begeisterten Dreijährigen, der einem voller Stolz ein wild bekritzeltes Stück Papier unter die Nase hält, sagen "Herrjesses, was ist das denn? Das kann ja kein Mensch erkennen? Das soll die Oma im Garten sein?"
Oder wenn Herr Nachbar mir eine Flasche Wein fürs Briefkastenleeren während seines Urlaubs verehrt, ich kenn den (den Wein), den krieg ich jedes Jahr, der ist inzwischen überlagert und der war selbst in Jugendzeiten auch nur annähernd genießbar. "Oh Herr X., nehmen Sie den nur gleich wieder mit, den krieg ich nicht runter und den kann ich noch nicht mal an die Sauce geben!" Ja, dann klappt's auch mit dem Nachbarn!
Es ist ein kleiner aber nicht unwesentlicher Unterschied, ob eine Damenoberbekleidungsfachverkäuferin mit unwiderstehlichem Augenaufschlag sagt "Das steht Ihnen ausgezeichnet, Sie können so was einfach tragen!" und versucht, einem den überteuerten Ladenhüter anzudrehen, oder wenn man der unsicheren Bekannten auf die Frage "Na, wie findest Du mein neues Kleid, ich fühl mich ja so wohl darin!" sagt "Grausam, das sieht aus wie aus dem Kleidercontainer gezogen!" Ein "Ich finde, Blau steht Dir eigentlich noch viel besser!" muss da genügen.
Ein besonderes Feld der notwendigen Lüge ist das minenreiche Terrain der gesellschaftlichen Zusammenkünfte, Essenseinladungen, Parties usw. Die Gastgeberin hat sich unendlich Mühe mit dem Essen gegeben, die Suppe ist versalzen, die Bratenwürzung hat – um es milde auszudrücken – eine äußerst unharmonische Gewürzkombination, die Weine sind allesamt zu süß, zu warm, zu knallig. "Nun, ich hoffe, es schmeckt Ihnen!" – "Nein, es ist grausam, geben Sie mir einfach ein Stück Brot mit Butter und ein Glas Mineralwasser, das hier krieg ich nicht runter!" Wenn dann die Kinder noch mit unbeholfenem Klavierspiel die Gäste unterhalten müssen, wird es hart, aber ein anständiger Mensch muss da durch.
Es gibt natürlich immer einige, die es für eine besondere Charakterstärke halten, immer genau das zu sagen, was sie denken und auch noch stolz darauf sind. Die erzählen auch mit Wonne Dreijährigen, die nicht der eigenen Familie angehören, es gäbe weder Christkind noch Osterhasen, und halten ihre schonungslose Offenheit für eine gute Tat. Die tun mir leid, sowohl diese Menschen als auch diejenigen, die Adressat dieser brutalen Wahrheitsliebe sind.
Auch im Zusammenhang mit Kreativen ist große Vorsicht angebracht. Die sind – ungelogen – allesamt schrecklich sensibel und die Wahrheit, oder das was wir dafür halten, ist für sie oft nur schwer zu ertragen. Eine Opernproduktion kann man wohl ausbuhen, wenn sie einem beim besten Willen nicht gefällt (obwohl für mein Empfinden, das Verweigern von Applaus in einem solchen Fall vollkommen ausreichend ist), aber von Mensch zu Mensch? "Das Bild, Monsieur, ist eine wertlose Schmiererei!" "Ihr Buch, Madame, ist langweilig, unlogisch und übel konstruiert!" "Ihr Wein, Herr Winzer, ist überladen, breit, unharmonisch und hintenraus sprittig!"
Ja, kann man machen, muss aber nicht.
Ich für mein Teil bin froh, dass es mehr oder weniger professionelle Kritiker gibt, die in eigens dafür geschaffenen Kanälen die Dinge schonungslos auf den Punkt bringen, das ist nicht so persönlich. Mir reicht es, wenn ich sagen kann "Ich verstehe Ihre Kunst nicht!" oder "Mir schmeckt der Wein nicht, ich bevorzuge einen trockeneren Stil!" Ich glaube sowieso nicht, dass der so kritisierte Winzer sagen würde "Ja, da haben Sie recht, der ist mir nun so gar nicht gelungen!"
In diesen Zusammenhang passt auch der Wein, den eine facebook-Bekannte in den letzten Tagen vorstellte "Unwooded Chardonnay" stand auf der Flasche und sie und ihrer Mittrinker hatten ein sehr intensives Holzaroma, wie man es vom Barriqueausbau kennt, konstatiert. Lüge? Oder tiefere Wahrheit, weil das Aroma ohne Zuhilfenahme irgendwelcher hölzerner Hilfsmittel (Fass oder Chips) zustande gekommen ist? Im Wein liegt Wahrheit – auf dem Etikett wird's unübersichtlich.
Und deswegen mach ich es mir einfach, über Weine, die ich – zu Recht oder zu Unrecht – für nicht gelungen halte, schreib ich nicht (oder nur ganz selten mal); ich kann mir das leisten. Und das ist der Wahrheit, Baby!
Am Wochenende ging's mir richtig gut, da gab es einen Wein, der nahe an der Perfektion war. Da muss ich nicht nach beschönigenden Vokabeln ringen oder freundlich den Mantel des Schweigens darüber legen
1999 Château Kirwan
Margaux, Bordeaux
Die 99er scheinen mir derzeit alle in bester Verfassung zu sein. Der Kirwan duftet sehr angenehm warm, erdig, leicht floral und holzwürzig und wenn der Wein den Gaumen trifft und über die Zunge rollt, dann ist der Genuss perfekt; samtig und fein, nicht kräftig, eher schlank, angenehme Süße, Schokolade, Pflaumenmus, Cassislikör, noch etwas Tannin, das dem Ganzen Struktur verleiht, der Abgang könnte ein wenig länger sein, er ist harmonisch und komplex, aber recht schnell zu Ende.
Aber das mit der Wahrheit ist gar nicht so einfach. Der Mensch, das ist wissenschaftlich erwiesen, lügt ungefähr 200 Mal am Tag und täte er es nicht, es hätte ungeahnte Folgen für das menschliche Zusammenleben und den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
In der Bibel steht ja auch gar nicht "Du sollst nicht lügen!", da steht "Du sollst kein falsches Zeugnis abgeben wider Deinem Nächsten!" eine Forderung, die heute in Form der Arbeitszeugnissen zu äußerst gequälten Formulierungen führt. Jedenfalls steht da nicht, man solle einem begeisterten Dreijährigen, der einem voller Stolz ein wild bekritzeltes Stück Papier unter die Nase hält, sagen "Herrjesses, was ist das denn? Das kann ja kein Mensch erkennen? Das soll die Oma im Garten sein?"
Oder wenn Herr Nachbar mir eine Flasche Wein fürs Briefkastenleeren während seines Urlaubs verehrt, ich kenn den (den Wein), den krieg ich jedes Jahr, der ist inzwischen überlagert und der war selbst in Jugendzeiten auch nur annähernd genießbar. "Oh Herr X., nehmen Sie den nur gleich wieder mit, den krieg ich nicht runter und den kann ich noch nicht mal an die Sauce geben!" Ja, dann klappt's auch mit dem Nachbarn!
Es ist ein kleiner aber nicht unwesentlicher Unterschied, ob eine Damenoberbekleidungsfachverkäuferin mit unwiderstehlichem Augenaufschlag sagt "Das steht Ihnen ausgezeichnet, Sie können so was einfach tragen!" und versucht, einem den überteuerten Ladenhüter anzudrehen, oder wenn man der unsicheren Bekannten auf die Frage "Na, wie findest Du mein neues Kleid, ich fühl mich ja so wohl darin!" sagt "Grausam, das sieht aus wie aus dem Kleidercontainer gezogen!" Ein "Ich finde, Blau steht Dir eigentlich noch viel besser!" muss da genügen.
Ein besonderes Feld der notwendigen Lüge ist das minenreiche Terrain der gesellschaftlichen Zusammenkünfte, Essenseinladungen, Parties usw. Die Gastgeberin hat sich unendlich Mühe mit dem Essen gegeben, die Suppe ist versalzen, die Bratenwürzung hat – um es milde auszudrücken – eine äußerst unharmonische Gewürzkombination, die Weine sind allesamt zu süß, zu warm, zu knallig. "Nun, ich hoffe, es schmeckt Ihnen!" – "Nein, es ist grausam, geben Sie mir einfach ein Stück Brot mit Butter und ein Glas Mineralwasser, das hier krieg ich nicht runter!" Wenn dann die Kinder noch mit unbeholfenem Klavierspiel die Gäste unterhalten müssen, wird es hart, aber ein anständiger Mensch muss da durch.
Es gibt natürlich immer einige, die es für eine besondere Charakterstärke halten, immer genau das zu sagen, was sie denken und auch noch stolz darauf sind. Die erzählen auch mit Wonne Dreijährigen, die nicht der eigenen Familie angehören, es gäbe weder Christkind noch Osterhasen, und halten ihre schonungslose Offenheit für eine gute Tat. Die tun mir leid, sowohl diese Menschen als auch diejenigen, die Adressat dieser brutalen Wahrheitsliebe sind.
Auch im Zusammenhang mit Kreativen ist große Vorsicht angebracht. Die sind – ungelogen – allesamt schrecklich sensibel und die Wahrheit, oder das was wir dafür halten, ist für sie oft nur schwer zu ertragen. Eine Opernproduktion kann man wohl ausbuhen, wenn sie einem beim besten Willen nicht gefällt (obwohl für mein Empfinden, das Verweigern von Applaus in einem solchen Fall vollkommen ausreichend ist), aber von Mensch zu Mensch? "Das Bild, Monsieur, ist eine wertlose Schmiererei!" "Ihr Buch, Madame, ist langweilig, unlogisch und übel konstruiert!" "Ihr Wein, Herr Winzer, ist überladen, breit, unharmonisch und hintenraus sprittig!"
Ja, kann man machen, muss aber nicht.
Ich für mein Teil bin froh, dass es mehr oder weniger professionelle Kritiker gibt, die in eigens dafür geschaffenen Kanälen die Dinge schonungslos auf den Punkt bringen, das ist nicht so persönlich. Mir reicht es, wenn ich sagen kann "Ich verstehe Ihre Kunst nicht!" oder "Mir schmeckt der Wein nicht, ich bevorzuge einen trockeneren Stil!" Ich glaube sowieso nicht, dass der so kritisierte Winzer sagen würde "Ja, da haben Sie recht, der ist mir nun so gar nicht gelungen!"
In diesen Zusammenhang passt auch der Wein, den eine facebook-Bekannte in den letzten Tagen vorstellte "Unwooded Chardonnay" stand auf der Flasche und sie und ihrer Mittrinker hatten ein sehr intensives Holzaroma, wie man es vom Barriqueausbau kennt, konstatiert. Lüge? Oder tiefere Wahrheit, weil das Aroma ohne Zuhilfenahme irgendwelcher hölzerner Hilfsmittel (Fass oder Chips) zustande gekommen ist? Im Wein liegt Wahrheit – auf dem Etikett wird's unübersichtlich.
Und deswegen mach ich es mir einfach, über Weine, die ich – zu Recht oder zu Unrecht – für nicht gelungen halte, schreib ich nicht (oder nur ganz selten mal); ich kann mir das leisten. Und das ist der Wahrheit, Baby!
Am Wochenende ging's mir richtig gut, da gab es einen Wein, der nahe an der Perfektion war. Da muss ich nicht nach beschönigenden Vokabeln ringen oder freundlich den Mantel des Schweigens darüber legen
1999 Château Kirwan
Margaux, Bordeaux
Die 99er scheinen mir derzeit alle in bester Verfassung zu sein. Der Kirwan duftet sehr angenehm warm, erdig, leicht floral und holzwürzig und wenn der Wein den Gaumen trifft und über die Zunge rollt, dann ist der Genuss perfekt; samtig und fein, nicht kräftig, eher schlank, angenehme Süße, Schokolade, Pflaumenmus, Cassislikör, noch etwas Tannin, das dem Ganzen Struktur verleiht, der Abgang könnte ein wenig länger sein, er ist harmonisch und komplex, aber recht schnell zu Ende.
Red wine with fish. Well, that should have told me something.
James Bond in From Russia with Love
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